Gestern war ich fertig mit den Nerven. Meine Tochter, 11
Jahre alt, hatte den Nachmittag mit ihrer Freundin, einer Packung
Butterkekse und dem Telefon (für Telefonstreiche) gibbelnd in ihrem
Zimmer verbracht. Abends fiel ihr ein, dass noch Mathe zu machen war.
„Ich check das nicht!“ Meine Tochter ist die aktuelle
Rekordhalterin im „Ich-check-das-nicht"-Rufen. Es vergeht
höchstes eine Zehntelsekunde, die sie Aug-im-Aug mit einer
schulischen Aufgabe verbringt, bis sie „Ich-check-das-nicht!“
ruft. Und ich halte den Rekord darin, darauf zu reagieren. Ich leide
unter einem Turbo-Mutterinstinkt. Als ich noch stillte, konnte im
Supermarkt ein Baby am Kühlregal weinen und ich bekam in der
Schlange an der Kasse einen Milcheinschuss.
Ich sehe ein, dass es
einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden Rekorden gibt.
„Ich check das nicht!“
- „Ja, warte, ich komme.“ Die Phase, in der ich mit einem vor
Verständnis triefendem Lächeln sagte: „Versuche es doch erst
einmal, Schatz. Wie stolz wirst du sein, wenn du es alleine gelöst
hast“, ist abgeharkt. „Ich check das aber nicht!“ In dieses
Gefecht ziehe ich nur mit blütenweißem Papier und einem frisch
gespitzten Bleistift. Ich brauche eine Gegenwelt zu den
schmutzig-verschwitzten Grau verkneteter Radiergummis und zu der
schlampigen Arbeit, die Tintenkiller leisten.
„Lass mal sehen:
Verbinde die Punkte A und B durch eine Gerade und zeichne eine
Senkrechte ...“ Ich seufze behaglich. Die Klarheit der Geometrie
ist mir ein Trost. Für meine Tochter ist sie die blanke Provokation.
Sie zieht eine Linie in ihr Heft, die mit den Ansprüchen des
Begriffs „Gerade“ nichts zu tun hat. Mehrfach verrutscht das
Geodreieck. Der Bleistift ist so stumpf, dass er die Präzision eines
Textmarkers hat. „Ich hasse Mathe.“ Mit dem Radiergummi
malträtiert sie die Seite. „Was war noch mal eine Diagonale?“ -
„Oh, Gott, nicht einmal die Grundbegriffe sitzen, und das abends um
halb acht.“
Schon meine Oma hat meiner
Mutter geraten, in brenzligen Situationen tief durchzuatmen. Ich
erinnere mich an Kinderarztbesuche, bei denen meine Mutter neben mir
im Wartezimmer saß und so hörbar atmete, dass es ein
Blätterrauschen gab im Ficus Benjamin neben dem
Zeitschriftenständer. Sie hatte immer Angst vor einer schlimmen
Diagnose und versuchte, sich mit einer Überdosis Sauerstoff zu
beruhigen. Bei mir hatte das den gegenteiligen Effekt. Immer wenn
jemand tief durchatmet, weiß mein Körper: Gefahr in Verzug.
Ich hatte also angesichts
des Mathefiaskos tief durchgeatmet. Ein fataler Fehler: Sofort sah
ich vor meinem inneren Auge meine Tochter als Obdachlose mit einem
Schild voller Rechtschreibfehler in der Fußgängerzone sitzen.
Irgendwann war Mathe
fertig. Aber wir beide auch. Ich war dem Reflex aller Eltern erlegen:
Dem
„Wir-haben-doch-so-viel-für-Euch-getan/gekauft/gebügelt/Brote-geschmiert
und ihr gebt euch nicht mal Mühe bei den Diagonalen.“
(Postkartenbild: Ausschnitt aus Francine Van Hope: Les Dimanche de La Rochelle, 1993)