Dienstag, 27. November 2012

Glückliche Familie Nr. 103: Mit dem Portable ins Baumhaus


Im vierten Quartal 2011 hatte die Zeitschrift "Landlust" erstmals eine höhere verkaufte Auflage als der "Stern".

Ich kann das verstehen.

Auch ich habe diese Sehnsucht nach einem einfachen Leben in der Natur.

Im Einklang mit dem Mondkalender die Blumenzwiebeln setzen und mit der Manufactum-Schere den alten Apfelbaum beschneiden. Mit den Kindern Borkenschiffchen auf den glucksenden Bach setzen. Wenn dabei die selbst gestrickten Strümpfe nass werden, hängen wir sie über das Hanfseil am Kachelofen und lesen aus "Großvater und die Wölfe" von Per Olov Enquist.

Die gesammelten Pilze schmoren in der Pfanne. Ich hole meine digitale Kamera mit der Mega-Verpixelung und schieße stimmungsvolle Bilder von rotwangigen Kindern und kleinen Händchen. Vorne scharf der kleine Fingernagel mit Erde drunter, hinten verschwommen die Eckbank, die Socken, der Eichelkranz.

Im Sommer sitzen wir im Baumhaus mit unserem Portable und senden die Fotos vom Kirschkernspucken wireless in das Netz, das wir nicht sehen.

Im Winter schöpfen wir selber das Papier für die Weihnachtswunschzettel. Und doch wird wieder drauf stehen "Nintendo, bitte, bitte, bitte" oder ein "Touch-Handy". Zehn Ausrufezeichen zerlaufen auf dem groben Papier.

Entschleunigt kommen unsere Kinder aus dem Waldorfkindergarten und landen doch auf der G8-Schule. Die Erderwärmung ist für sie eine Kurve auf dem Smartboard, ein Flugzeug so alltäglich wie der Schulbus.

Wir leben in diesem Spannungsfeld. Gestern die "cebit", morgen der Bauernmarkt mit den ungewaschenen Möhren.

Bücher warnen uns vor dem "Gefahrenpotential" von Bildschirmmedien. Unsere Kinder - so alarmiert man - werden "digital dement".

Ich klappe sie zu die Bücher, die Schuldgefühle machen. Sie nehmen mir die Kraft.

Ich knicke den erhobenen Zeigefinger ein. Zurück ins Glied mit dir! Ich nehme die ganze Hand zum Streicheln oder auf den Tisch hauen.

Sind wir eine Elterngeneration im Zwiespalt?

Nein.

Wir schaffen beides, das Baumhaus und den Internet-Auftritt.



Das iWood von Donkey Products, Symbol für eine Elterngeneration, die beide Welten vereint


Immer fröhlich den erhobenen Zeigefinger umbiegen

Uta

Donnerstag, 22. November 2012

Glückliche Familie Nr.102: Morgenröte


Heute morgen 7:30 Uhr in Deutschland. Poltern auf der Treppe. Hünenhafter Teenager erscheint im Esszimmer, setzt sich an den Tisch, nimmt eine Brotscheibe aus dem Korb, streicht Frischkäse und Marmelade darauf.

Sohn: "Ich habe festgestellt, dass es mir besser geht, wenn ich etwas frühstücke."

Mutter: "Ach."

Er nimmt sich einen Apfelschnitz, trinkt ein Glas Orangensaft.

Sohn: "Ich werde demnächst etwas früher aufstehen, mir ein Sandwich machen mit Salat, Käse und Schinken und es mit in die Schule nehmen."

Mutter: "Ach."

Sohn: "Es ist mir einfach zu teuer, mir jeden Mittag, einen Döner zu kaufen."

Mutter: "Ach."

Sohn: "Kannst du knackigen Salat, Schinken und Brötchen für mich beim Einkaufen mitbringen."

Mutter: "Ach, ...äh, ich meine, ja."

Sohn: "Gut, tschüss dann."

Es dämmerte.

Draußen und in meinem Kopf. Hatte ich eine Erscheinung?

Seit Monaten hatte Kronprinz (15) vor der Schule nichts gefrühstückt. Jeden Morgen stellte ich einen Teller an seinen Platz und jeden Morgen räumte ich ihn unbenutzt wieder ab.

Anfangs hatte ich gefragt, ob er wirklich nichts essen wollte, hatte mich erkundigt, ob er vielleicht lieber Müsli möchte statt Brot. Aber ich hatte nie gedrängt oder geschimpft geschweige denn, ihn gezwungen, etwas zu essen oder ein Frühstücksbrot mitzunehmen.

Und jetzt das.

Morgenröte 


Wir haben eine gute Zeit mit unseren Kindern (15 und 11). Und meine größte Passion ist es, herauszufinden, wie es dazu gekommen ist, und meine Leser von meinen Erkenntnissen profitieren zu lassen. In guten wie in schlechten Zeiten.

Beim Laubfegen gestern habe ich darüber nachgedacht, was meine pädagogischen Schlüsselerkenntnisse sind. Ich musste den Rechen nicht lange durch die Blätter ziehen, da fiel mir dieser Satz ein:

... unterstützen statt erziehen ...


Es ist der Untertitel des Buches Kinder der Morgenröte von Hubertus von Schoenebeck. 

Ich habe dieses Buch an einem Samstag im Frühjahr 2008 morgens im Bett gelesen. Und es hat mich wie ein Blitz getroffen. Ich weiß noch, wie ich kurz darauf in den Getränkemarkt fuhr und selig lächelnd Flaschen in den Leergutautomaten schob.

Von Schoenebeck schreibt, dass jede Erziehung - ob autoritär oder antiautoritär, ob Waldorf- oder Montessori, ob Laisser-faire oder demokratisch - immer die Botschaft für das Kind enthält: du musst erst noch ein richtiger Mensch werden, dir muss ich etwas beibringen, du kannst vieles noch nicht tun oder entscheiden, du bist nicht alt genug, nicht groß genug und - im Kern -

du bist nicht ausreichend so wie du bist.

Erziehung könne noch so partnerschaftlich daherkommen, mit Augenhöhe und so einem Gesulze. Letztendlich seien sich die meisten Eltern aber sicher, sie wüssten besser als ihr Kind, was gut ist für das Kind. Schließlich waren ihre Eltern auch so mit ihnen, das gibt man einfach weiter.

Was kann man das vermeiden?

Sich öfter mal fragen: Warum will ich in einer Situation eingreifen?

Variante 1: Will ich eine Grenze ziehen für mich selbst ("Wenn du noch einmal mit deinen Freundinnen mein Rouge benutzt, bekomme ich 20 Euro von dir."), was völlig okay ist und auch gerne laut sein darf.

Variante 2: Bin ich in pädagogischer Mission unterwegs ("Im Grunde brauche ich das Rouge sowieso nicht mehr, aber sie soll lernen, fremdes Eigentum zu respektieren.").

Variante 2 - so von Schoenebeck - ist Gift für die Beziehung zum Kind. Kein sofort Tödliches, aber eines, das Tröpfchen für Tröpfchen unser Miteinander vergiftet, weil unser Ansatz ist: "Du bist nicht gut genug."

"(Im Miteinander, meine Ergänzung ...) geht es nicht um das 'Sieh das ein', nicht um Trotz, den es zu brechen gilt, nicht um das Teufelchen, das man zum Besten des Kindes austreiben muss, nicht um das Abendland, das in der Seele des Kindes gerettet sein will. ... Erziehungsfreie Konflikte verlaufen in anderen Bahnen, jenseits von missionarischem Eifer und inerer Not des Erwachsenen und jenseits von Wut, Hass, und Verzweifelung des Kindes." (von Schoenebeck, S. 57)

Seitdem ich glückstrunken vor dem Getränkeautomaten stand, habe ich diesen Ansatz nie vergessen. Es gelingt uns nicht immer, das umzusetzen. Wir haben auch Konflikte, aber sie erschüttern uns nicht in den Grundfesten der Beziehung zueinander.

Ich habe das Buch schon mehrfach verschenkt und bekam Reaktionen wie: "Das ist ja strange."

Aber vielleicht ist die eine oder andere unter euch, die es so tief berührt, wie mich.

Immer schön glücklich am Getränkeautomaten stehen von Schoenebeck lesen.

Uta

Sonntag, 18. November 2012

Glückliche Familie Nr. 101: Kein Drängeln, kein Schubsen




Die Zettel mit euren Namen auf dem Weg zur gläsernen Los-Trommel. Ich muss sagen, ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf der ersten Verlosung. Brav in Zweier-Reihen stellten sich die Teilnehmer auf. Kein Schubsen, kein Drängeln.


Prinzessin (11) und Kronprinz (15) haben jeder ein Los gezogen. Die Gewinnerinnen sind:


  • Susanne von "Lesende Frauen sind gefährlich" und
  • Steffi



Herzlichen Glückwunsch! 

Bitte schickt mir per Mail eure Adressen, damit ich die Bücher zur Post bringen kann.

Kronprinz meinte, ich sollte noch einmal betonen, dass es eine Verlosung war und wir nicht nach der Qualität der Kommentare ausgesucht haben. Er hatte den Eindruck, dass sich alle viel Mühe mit ihrem Statement gegeben hätten.

Dafür möchte ich mich auch bedanken. Es war interessant zu lesen, welche verschiedenen Lösungen Eltern für ihre Kinder finden, manchmal auch unterschiedliche von Geschwisterkind zu Geschwisterkind.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta

Donnerstag, 15. November 2012

Glückliche Familie Nr. 100: Verlosung


Zur Feier des 100. Posts möchte ich heute zwei Büchlein verschenken. Und zwar zwei Exemplare einer neuen Veröffentlichung von Jesper Juul.


 Weinheim und Basel 2012

Es hat nur 38 Seiten und ich habe es gestern in einem Rutsch gelesen, als ich beim Hautarzt auf den Kronprinz (15) wartete.

Für mich ist Juul der Dalai Lama der Pädagogik.

Mir gefällt, dass er nicht zündelt zwischen den Müttern mit den verschiedenen Lebensmodellen.
Mir gefällt, dass er die skandinavische Familienpolitik nicht idealisiert.
Mir gefällt es, wenn er sagt, dass das Wohlergehen des Kindes untrennbar mit dem Wohlergehen der Eltern verbunden ist.

Und ich liebe Sätze wie diese:

"Ein robustes Kind kann etwa 6 bis 7 Stunden Pädagogik am Tag aushalten!"

Wer das Buch bestellen möchte, kann es hier tun:

http://shop.famlab.de/Wem_gehoeren_unsere_Kinder.

Oder ihr macht bei meiner Verlosung mit. Ihr braucht zu diesem Post nur einen kurzen Kommentar mit eurer Ansicht zur Frühbetreuung zu schreiben. Zwei davon werde ich auslosen und den Verfassern das kleine Buch schicken. Die Verlosung endet am Sonntag.

Immer fröhlich die Frühbetreuung verbessern

Uta

Dienstag, 13. November 2012

Glückliche Familie Nr. 99: Sendungsbewusstsein


Vokabeltest in Englisch zurück. Fünf minus. Acht von zwölf Vokabeln waren richtig, aber es fehlte ein Satz, der vier Punkte gab. Fünf minus.

Ich setzte mich an mein Laptop und formulierte. "Sehr geehrte Frau x, ich möchte Ihnen die Rückmeldung geben, dass mein Kind traurig und enttäuscht aus der Schule kam. Die Strenge, mit der Sie solche Tests bewerten, ist demotivierend. Ich dachte, hoffte vielmehr, die Pädagogik der Total-Entmutigung sei nicht mehr zeitgemäß. Mit freundlichen Grüßen ..."

Hatte ich Schaum vor dem Mund? Ich fühlte mit der Zunge. Nichts. Ich stand auf und schaute in den Spiegel. Schaum nicht, aber so griesgrämige Die-Welt-ist-ungerecht-Fältchen zwischen den Augen und um die Nase. Ich probierte ein kleines Lächeln. Schon besser. Im Flur hörte ich das Opfer der Entmutigungs-Pädagogik seine Hip-Hop-Sachen packen. Es sang.

Ich fixierte mein kleines Lächeln und setzte mich wieder vor den Bildschirm. Die Mail guckte mich an. Nur ein Klick und ich hätte mein Kind und mich gerächt. Nur ein Klick und ich könnte jemandem eine mitgeben.

Wieder eine Beschwerde mehr in die Welt gesendet. Geht ja so leicht.


Sendungsbewusstsein

Ich klickte auf "nicht sichern".

Ich will nicht mich beschweren. Und auch nicht die Lehrerin beschweren. Ich will lieber gucken, wo ich es leichter machen kann für andere und für mich:

ein Klassenfest organisieren, Witze machen mit den Kindern, die ich in der Schulkantine bediene, anerkennen, wo Lehrer etwas richtig gut machen, mich bedanken beim unermüdlichen Schulhausmeister und Ideen unterstützen wie die von Gerald Hüther.

Der Professor für Neurobiologie gehört zu einem Team, das eine neue Lehrerausbildung an je drei deutschen und österreichischen Hochschulen anbieten wird. Der neue Masterstudiengang heißt "Potentialentfaltungscoach" (hier der Professor im Interview mit Spiegel-online).

Wenn die Kinder aus dem Haus sind, könnte ich mich dort als Senior-Studentin einschreiben. Ich werde darüber nachdenken.

Immer fröhlich die Beschwerde-Mails in den Papierkorb schieben und das nächste Fest vorbereiten

Uta

Sonntag, 11. November 2012

Glückliche Familie Nr.98: Jonglieren


Im Eltern-Training habe ich von drei Bällen gesprochen, die Eltern in der Hand halten:





"Mit diesen drei Bällen jonglieren Sie immer", habe ich zu den Eltern gesagt. "Es ist gut, keinen dieser drei Bälle fallen zu lassen."


Ich finde dieses Bild hilfreich, muss immer wieder daran denken.


Nähe  


Kuscheln, in den Arm nehmen, den Rücken kratzen, an die Hand nehmen, beim Vorlesen auf den Schoß nehmen, Beauty-Programm, liebevoll die Haare kämmen, massieren, eincremen.

Für Prinzessin (11) und mich habe ich gerade die Bodylotion "Bio-Wildrose" gekauft. Wenn ich das Gefühl habe, sie könnte eine Dosis "Nähe" gebrauchen, ist so eine neue Lotion ein guter Vorwand, ihr abends im Bett die Beine einzucremen und zu massieren.

Wir haben einmal mit Freunden Urlaub gemacht, als deren Kinder 4 und 1 Jahr alt war. Wir schlenderten zusammen über eine Uferpromenade und unsere Freundin, vom Beruf Erzieherin, trug den Jüngsten auf dem Arm. Der Vierjährige dagegen umkreiste unsere Gruppe wie ein ungesteuerter Satellit, nur schlecht und recht durch Ermahnungen auf Kurs gehalten. "Kannst du Oskar mal an die Hand nehmen?", flüsterte unsere Freundin ihrem Mann zu. Satellit Oskar wurde angedokt. Kleine Hand in große Hand. Und es war Frieden.
(Bitte schreibt mir jetzt nicht, dass das nicht immer hilft. Ich weiß!)


buntes Leben 


Alle Arten von Anregungen, Spielen, Ausflügen, oft ganz simpel: zusammen Backen, Kochen, Steine sammeln, alte Tapeten anmalen ...

Guckt, dass ihr Sachen macht, die euch selber Freude machen. Ich hätte so Lust, mal zu einer der unbewohnten Elb-Inseln rüber zu rudern oder mit der ganzen Familie durch einen der deutschen Urwälder zu wandern. Caro von dem wunderbaren Blog Naturkinder empfiehlt das Buch Urwälder Deutschlands von Georg Sperber und Stefan Thierfelder. (Oh, das wünsche ich mir zu Weihnachten!) Sollte sich der Wunsch erfüllen, will ich in den Weihnachtstagen gleich mit der Familie in einen deutschen Urwald fahren. Ich bin sehr gespannt, welche Wälder in Norddeutschland verzeichnet sind.

An diesem Wochenende haben wir uns vorgenommen, dass jeder eine Liste macht: "25 Sachen, die ich auf jeden Fall in meinem Leben gemacht haben möchte".

Samuel Lieberman, eine Figur aus der Serie "Dance Academie" hatte so eine Liste (allerdings mit 50 Punkten). Sam ist in der Serie tödlich verunglückt, wie alle Fans wissen. In der nächtlichen Trauerfeier am Strand hat sein Freund "Chrischtian" die Liste vorgelesen und ist alle Punkte durchgegangen: sich ein Tatoo stechen lassen, auf einer Brücke in Sydney tanzen, sich einmal gegen den Vater durchsetzen, Freunde finden, die einen durch das ganze Leben begleiten ..."Den letzten Punkt", flüsterte Chrischtian und seine tränenglänzende Augen wanderten von einem Freund zu anderen, "den letzten Punkt hat er auf jeden Fall geschafft." (Bleibt dran, ich hole nur kurz ein Taschentuch.)

So eine Liste zu schreiben und zu hören, was die anderen auf ihrer Liste haben, ist schon "buntes Leben" pur. Und dass Sachen darauf sein könnten, die wir schon bald umsetzen könnten, macht mich ganz kribbelig. Ich werde berichten.


Grenzen


Beim Jonglieren mit den drei Bällen "Nähe", "Grenzen" und "buntes Leben" plumpst mir der Ball "Grenzen" am häufigsten hin. Ja, es ist mir immer schon schwer gefallen, meinen Kindern Grenzen zu setzen. Ich ertappe mich täglich dabei, dass ich ihnen alles ermöglichen möchte - häufig auf Kosten meiner Kräfte. Wenn ich dann endlich Grenzen setze, wundere ich mich häufig, wie leicht es geht.

Die Regel, dass Prinzessin (11) mittags nur eine halbe Stunde ans iPad darf, ist inzwischen ein Selbstläufer. Keine Diskussion mehr.

Kronprinz (15) habe ich vergangene Woche verkündet, dass ich ihm nicht mehr bei Latein helfen werde, weil ich gemerkt habe, dass er es nur lernt, wenn er sich selber durch die Texte fuchst. Als ich kurz darauf wieder schwach wurde und ihm bei einer komplizierten Konstruktion helfen wollte, pochte er selbst darauf: "Lass mich das alleine machen."

Mit meiner Fußpflegerin (ich erwähnte, dass sie eine weise Frau ist) sprach ich über Durchsetzungskräfte. "Sie sind ja Zwilling", hob sie an, "Zwillinge sind immer ..." - "Frau G.", unterbrach ich sie, "ich bin kein Zwilling, ich bin Fisch." Frau G. setzte ihren Vortrag ungebremst fort. "Ach, Gott, ja, der Fisch, der Fisch ist lasch."

Daran liegt es also.

Immer schön fröhlich jonglieren

Uta

Dienstag, 6. November 2012

Glückliche Familie Nr. 97: Altruismus in Netzstrumpfhosen


Die Grünen in Hamburg fordern, den künftigen Rechtsanspruch für Einjährige auf einen Kita-Platz (gilt von August 2013 an) von fünf auf acht Stunden auszuweiten. (Hamburger Abendblatt vom 5.11.2012)

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Beim Spazierengehen am Wochenende trafen mein Mann und ich Freunde mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter. "Ich bin ja weiterhin zu Hause", raunte Carolin mir zu, "aber damit bin ich in meinen Mütterkreisen so ziemlich die einzige." - "Wenn es schön ist für euch", raunte ich zurück, "genieße es doch." Wir beide guckten über die Schulter, ob irgend jemand unser konspiratives Gespräch gehört hatte.

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Bindungsforscher Karl Heinz Brisch schreibt, dass für die Betreuung von Säuglingen in einer Krippe ein Verhältnis von 1:2 zu empfehlen ist. "Das heißt eine Erzieherin betreut maximal zwei Säuglinge. Besteht die Gruppe sowohl aus Säuglingen als auch aus größeren Kindern, kann das Betreuungsverhältnis 1 : 3 sein. ... Die heutigen Betreuungsverhältnisse von 1 : 6 oder gar 1 : 8 und mehr sind nicht akzeptabel." (Karl Heinz Brisch: SAFE. Sichere Ausbildung für Eltern, Stuttgart 2010, S. 137)

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Am vergangenen Freitag war ich zu Hause und machte im Wechsel Hausarbeit und schrieb, als eine Freundin klingelte, um für die gemeinsame Übernachtung unserer Töchter die Schlafsachen zu bringen. "Trägst du daheim immer solche Schuhe?", fragte sie. Ich stöckelte in Pumps und engem Rock durch meinen Haushalt. "Nicht immer", erwiderte ich, "aber warum sollte ich wie ein verhuschtes Mütterchen aussehen, nur weil ich zu Hause arbeite?" 
Vor zwölf Jahren lernte ich eine Mutter von drei kleinen Töchtern kennen. Sie fiel mir auf, weil sie von Zeit zu Zeit in Kleid und hohen Schuhen mit ihren Kindern auf den Spielplatz kam, sich auf die Bank setzte, in vollendeter Eleganz ein Feinstrumpfbein über das andere schlug und die Keks-Box aufklappte, als sei es eine Puderdose. Unpraktisch? Egal. Wahrscheinlich lag der Haushalt brach, aber sie wahrte ihre Würde als Frau. Ihre Töchter dürften fast erwachsen sein, aber den Auftritt ihrer Mutter auf dem Spielplatz habe ich nie vergessen. (Die Töchter sicher auch nicht.)


Jeans: Esprit-Denim, abgeschnitten, Strumpfhose H&M, Schuhe: aus einem italienischen Schuhladen in Berlin,  Klammerbeutel: Schwiegermutter


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In der aktuellen Ausgabe der ZEIT gibt es ein Pro und Contra zu der Frage "Darf man Hausfrau sein?". In ihrem "Pro"-Text schreibt Sabine Rückert:

"Hausfrau kann heute ein ganz und gar politisch nicht korrekter Lebensentwurf sein, ein Widerstand gegen alle Aufdringlichkeiten des Zeitgeists. Die bewusste Hausfrau ist eine Rebellin gegen die Zwänge des Marktes. Sie macht nicht mit beim großen Rattenrennen. ... Sie sitzt am Sandkasten und schaut den Kleinkindern beim Schaufeln zu. Sie hat, was Kinder zum Großwerden brauchen: Zeit. Zeit zum Spazierengehen, zum Plätzchenbacken, zum Basteln, zum Vorlesen. Sie ist eine Entschleunigungsfigur von einer fast philosphischen Dimension. ...Die Hausfrau ist eine merkwürdig altruistische Erscheinung in einer Welt von Egomanen, sie arbeitet nicht an ihrer Selbstoptimierung, sondern am Wohlergehen anderer, Schwächerer. An der Stabilität von Bindungen in einer Zeit der Unverbindlichkeit."


Liebe Sabine Rückert,  herzlichen Dank für diese Worte und herzlichen Glückwunsch zum Aufstieg in die Chefredaktion der ZEIT. Ich freue mich über ihren Aufstieg und darüber, dass Sie Frauen, die einen anderen Lebensentwurf leben als Sie selbst, den Rücken stärken. Das ist so selten. Danke!


Immer schön fröhlich bleiben

Uta


PS: Eine "altruistische Erscheinung" ist auch meine Mum. Sie hat vier Kinder groß gezogen. Und als das letzte aus dem Haus war, hat sie jahrelang ehrenamtlich beim Kinderschutzbund türkischen Kindern bei den Hausaufgaben geholfen. Danke, Mum!

Samstag, 3. November 2012

Glückliche Familie Nr. 96: Bücher und Zehenzwischenräume


Gestern las ich in der Zeitung einen Artikel über die Engländerin Wendy Cooling. Diese Frau hat das Projekt "Bookstart" erfunden. "Bookstart" sorgt dafür, dass jedes Jahr 700 000 Neugeborene in Großbritannien eine Tasche mit zwei Büchern geschenkt bekommen: eine zur Geburt, eine zwei Jahre später und eine zur Einschulung.
In vielen Städten weltweit hat es Nachahmer gefunden. Und in dieser Woche wurde in Hamburg gefeiert, dass der Bürgermeister die 100.000 Büchertasche in eine Wiege gelegt hat.





Im Hamburger Abendblatt stand: "Bei einer Studie der Universität Hamburg stellte sich heraus, dass Zweijährige aus Hamburg, die Buchstart-Bücher bekommen hatten, deutlich mehr Wörter kannten als Gleichaltrige aus Bremen, die keine Buchpakete erhalten hatten."

Die armen Bremer. Immer verlieren sie in der Statistik, sogar beim Vergleich der Gaststättenhygiene in allen Bundesländern (siehe ZEIT-Magazin diese Woche).

Aber zurück zur Leseförderung. Das ist auch eins von vielen Dingen, um die Eltern sich kümmern müssen.

Wendy Cooling möchte, dass wir das Lesen fördern.
Der Kinderarzt möchte, dass wir bei den Kindern das Sporttreiben und die gesunde Ernährung fördern.
Die Englischlehrerin möchte, dass wir das tägliche Vokabellernen fördern.
Die Klavierlehrerin möchte, dass wir das Üben fördern.
Unsere Zahnärztin möchte, dass wir die Benutzung von Zahnseide fördern.
Der Hautarzt möchte, dass wir die tägliche Reinigung des pubertierenden Gesichts fördern.
Eine Freundin meinte, man müsse es fördern, dass die Kinder nach dem Duschen die Zehenzwischenräume abtrocknen.
Und alle fordern, dass wir die Selbständigkeit der Kinder fördern.

Hat noch jemand ein Förderanliegen?

Und alle flöten: "Es reichen schon fünf Minuten jeden Tag."

Aber in der Summe sind es Stunden. Und wer betreibt die ganze Förderei?

Muttern 

Da liebe ich mir doch meine Wendy Cooling. Sie möchte zwar das Lesen fördern, setzt aber hinzu:


"Niemals zum Lesen zwingen." 


Sie nimmt einfach ihre Büchertaschen und stopft sie in die Kinderwägen. Und es hilft auch.

Ich speichere das hier jetzt ab und gehe nach oben in die Kinderzimmer. Ich lege zwei deutsche Jugendbuchpreis-Bücher, einen kleinen Korb mit Obst und Gemüse, die unregelmäßigen englischen Verben, die Klaviernoten, eine Dose Zahnseide, Gesichtsreinigungsfluid und ein Handtuch für die Füße und stopfe alles in die Betten meiner Kinder.

Ich nenne mein Projekt "AutonomyStart". Es wird weltweit Nachahmer finden.

Aber jetzt mal im Ernst. Wendy hat Recht. Eltern sollen die Kinder nicht drängen, zwingen, kontrollieren (höchstens die Zehenzwischenräume).
Die Aufgabe von Eltern besteht im Wesentlichen darin, den Kindern viele Möglichkeiten zu bieten. Dann kann jeder kleine Mensch gucken, ob etwas für ihn dabei ist, und die Person werden, die in ihm steckt.

Immer fröhlich viele Bücher und Möglichkeiten bieten

Uta

P.S. Wendy Cooling hatte die "Bookstart"-Idee während einer Einschulungsfeier. Als eine Lehrerin jedem Schüler zur Begrüßung ein Buch schenkte, sah Wendy, dass ein kleiner Junge damit nichts anzufangen wusste. Er biss hinein.