Freitag, 28. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 202: Cheerleading mit Klobürsten


Von Frieda (zwei Söhne 5 und 3 Jahre alt) habe ich folgende Anfrage bekommen:

"Ich wünsche mir von dir einen Post über den Umgang mit "Stresssituation mit Kleinkindern". Ich meine damit einfach Alltagssituationen, die der Rede nicht weiter Wert sein sollten, mich aber manchmal doch zum Überkochen bringen. Situationen, die man auch gut mit Humor regeln könnte. Das Typische: Trödeln, Rumwedeln mit der Toilettenbürste, Holzkugeln quer durch das Wohnzimmer werfen, was kleine Jungs eben so machen."


Ich denke, man muss unterscheiden:

a) Ist es Experimentierlust oder Bewegungsdrang?

b) Ist es ein Eltern-Grenzen-Test? Schräger Blick zu Mama/Papa: Wie weit kann ich es treiben, bis sie/er explodiert?

c) Ist es ein Beziehungsbedürfnis, der Wunsch, irgendwie mit Mama zu tun zu haben, selbst wenn es wie beim Schimpfen negativ ist?



zu a) Experimentierlust oder Bewegungsdrang

Machen lassen, wenn es die eigenen Grenzen nicht verletzt oder die Statik des Hauses gefährdet.
Bei Jungen beträgt der Anteil der Muskeln an der Körpermasse 40 Prozent, bei Mädchen sind es nur 24 Prozent (Vera Birkenbihl). Besonders Jungen im Vorschul- und Grundschulalter sind programmiert auf Bewegung. Tun sie es nicht, verkümmern ihre Muskeln. Und auch für Mädchen ist Bewegung natürlich wichtig.

Viel raus gehen, Garten, Hof, Spielplatz, Wald und toben lassen. Das ist schon die halbe Miete. Der Fünfjährige kann auch auf dem Balkon oder auf der Terrasse Nägel einschlagen in einen Baumstumpf. Das kann ihn richtig lange beschäftigen. Der Kleinere bekommt einen Plastikhammer, Beistiftstummel und ein dickes Stück Styropor und darf es dem Bruder gleich tun. Diese Aktion kann reichen für einen "Latte grande" und eine gepflegte Blog-Runde.

Für drinnen Softbälle in verschiedenen Größen bereit halten. Super auch: eine Tobe-Ecke mit den alten dreiteiligen Matratzen von früher (bekommt man gelegentlich noch bei Haushaltsauflösungen). Bei uns hatte die Oma sie schön überzogen und dann ging's los. Sie dienten als Trampolin, Höhlenwände, Treppenschlitten und hochkant als Pferde.

Und schließlich anerkennen, dass es einfach anstrengend ist mit Kindern (und besonders mit zwei Jungs) in dem Alter. Als ich Kind war, kam uns gelegentlich eine Tante von mir mit ihren sieben Kindern, davon fünf Jungen, besuchen. Wir mochten die ganze Familie sehr gerne, aber jeder Besuch war wie ein Tornado, von dem wir uns tagelang erholen mussten. (Außerdem war danach mindestens eines unserer Fahrräder platt.)

Also sich nicht runterziehen mit Sätzen wie: "Ich mache alles falsch" oder "Ich habe das einfach nicht im Griff." Diese Phase hinterlässt Spuren an Möbeln und Nervenkostüm. Das ist einfach so.

Kronprinz vor fünf Jahren im Nussbaum der Großeltern

zu b) Eltern-Grenzen-Test

Wenn der Nachwuchs so schräg aus dem Augenwinkel guckt, wie wir reagieren, ist eine klare Haltung gefragt.

Stufe 1: "Nein, Cheerleading mit Klobürsten mag ich nicht. Stell die Bürste zurück in die Halterung und komm von der Toilette weg."

(wenn das nicht reicht)

Stufe 2: Klobürste wegnehmen (möglichst cool bleiben, Kind nicht abwerten, am besten gar nichts sagen, aber Aktion wortlos durchziehen)

(wenn das nicht reicht und der jüngere Bruder zeitgleich mit Holzkugeln wirft)

Stufe 3: Kind aus dem Bad bringen, von innen abschließen und wahlweise mit Nagelfeile auf die Klopapierrolle einstechen oder sich in Embryonalhaltung in den Duschvorleger einrollen und fünf Minuten tsunami-mäßig heulen.

Wenn das mehrstufige Verfahren keine Wirkung zeigt, handelt es sich wahrscheinlich um ein übergroßes Bedürfnis nach Nähe zu Mama oder Papa


zu c) Beziehungsbedürfnis

Hier könnte das Ritual der Kekspause helfen, erfunden und erfolgreich praktiziert von meiner Elterntrainerkollegin Bettina. Jeden Nachmittag gab es bei ihr und ihrem Sohn eine solche Pause, in der sie etwas Leckeres aus dem Schrank holte und mit dem Jungen ein Buch anschaute oder etwas vorlas.

Kinder lieben Rituale. Und wenn sie mit Klobürsten wirbeln, kann man sagen: "Mach bitte noch eine kurze Zeit lang etwas hygienisch Bedenkenloses, dann haben wir auch gleich unsere Kekspause."

Wenn Kinder wissen, dass sie sich darauf verlassen können, dass es eine solche exklusive Zeit mit Mama oder Papa gibt, sind sie meist sehr kooperativ.

Manchmal klappt es, mit beiden Kindern eine solche Pause zu machen und zusammen das gleiche Buch anzuschauen. Es kann aber sein, dass es besser funktioniert, mit jedem Kind einzeln etwas zu machen. (Gucke, dass das etwas ist, was dir auch Freude macht, sonst ist selbst die Kekspause anstrengend. Ein Kind bekommt sofort mit, wenn man sich selber quält oder langweilt.)

Anstatt ein Buch anzuschauen, könnte man auch zusammen etwas mit Bauklötzen bauen, eine geheime Leidenschaft von mir. Besonders toll finde ich die Kapla-Steine. Ich behaupte mal kühn und ohne dass ich Provision bekomme, dass Kinder kaum etwas anderes brauchen, wenn sie eine solche Kiste mit schlichten Holz-Bausteinen haben.


Liebe Frieda, ich weiß nicht, ob meine Anregungen zu deiner Lebenssituation passen. Die Zeit mit Kindern im Vorschulalter kann wahnsinnig schön, aber auch wahnsinnig anstrengend sein. Mir hat immer sehr geholfen, einmal die Woche zum Stepptanzen zu gehen. Nicht immer verständnisvoll und geduldig sein zu müssen, sondern zu stampfen und zu klappern, was die Eisen unter den Schuhen hergaben und als Mama auch mal laut sein zu dürfen. Das tat und tut so gut. Eltern brauchen eine solche Kraftquelle. Was ist es für dich?


Von einem unserer kleinen Auftritte.

In dieser Woche habe ich in der Schule einen Vortrag von Professor Rainer Thomasius vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) gehört. Auf die Frage, was Eltern tun können, um ihre Kinder vor Drogenabhängigkeit zu bewahren, sagte er: "Der beste Schutz ist ein gutes Familienklima in den ersten Jahren." 

Und das braucht einfach Zeit und Zugewandtheit. Alles andere ist Selbstbetrug. 

Immer fröhlich Zeit haben für Kekspausen und die eigenen Kraftquellen

Eure Uta


PS: Mögt ihr diese Art von Post oder ist das zu viel Text? Ich freue mich über Rückmeldungen.

Dienstag, 25. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 201: Aufklärung in Brandenburg


Meine Kinder sind ja nicht mehr im Bullerbü-Alter. Mit 13 und 16einhalb lässt man keine Borkenschiffchen mehr schwimmen oder liest dem blinden Großvater aus der Zeitung vor.

Als Eltern hat man sich mit so Themen wie Alkohol, Rauchen und erste sexuelle Erfahrungen zu befassen. Themen, bei denen ich mich gerne locker gebe, es aber absolut nicht bin.

Kleiner Beispiel-Dialog mit Prinzessin, nachdem ich mir vorgenommen hatte, etwas Heikles anzusprechen:

"Was guckst du so komisch?"-
"Ich gucke komisch?" -
"Ja, du ziehst die Augenbrauen mega-hoch und darüber ist alles voller Falten."-

 Uta kneift sich in die Wangen, lässt das ganze Gesicht schwabbeln und grunzt ein paar Urlaute.

"Besser?"-
"Na, ja."

Meistens bin ich dann so aus dem Konzept, dass ich das heikle Thema lieber fallen lasse.

Neulich aber war ich sehr erleichtert. Da habe ich von Remo Largo, dem Leiter der Abteilung "Wachstum und Entwicklung" am Kinderspital Zürich, Folgendes gelesen:
"Eltern spielen für ihre Söhne und Töchter mit ihrem partnerschaftlichen Verhalten und dem Austausch von Zärtlichkeiten als Vorbilder eine wichtige Rolle. ... Ich bin aber nicht der Meinung, dass die Eltern in der Aufklärung die Hauptrolle spielen sollten, auch wenn sie sich kompetent fühlen und der Ansicht sind, dass sie diese Aufgabe gut erfüllen können." Remo H. Largo, Monika Czernin: Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten. München 2011, S. 55) 
Lieber Remo Largo, ich bin sowas von Ihrer Meinung. Danke! Außerdem bin ich überhaupt nicht der Ansicht, dass ich diese Aufgabe gut erfüllen könnte. Dieses Zitat hänge ich in den nächsten Shabby-Bilderrahmen, der mir unter die Finger kommt. So ein kleiner Freibrief gleich im Flur.

Denn ich bin nicht so kühn wie meine Freundin Britta, die beim Abendessen mit ihren beiden Kindern nicht nur über Aids sprach, sondern auch über die drohende Unfruchtbarkeit (Verkleben der Eierstöcke) durch eine Chlamydieninfektion bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Chapeau, Britta!

Oder wie unser Freund Jochen, der im Auftrag seiner Frau und Mutter seiner bald erwachsenen Kinder zwei Packungen Kondome kaufte und jedem eines in die Hand drückte als wären es Überraschungseier.

Oder wie Bettina, die mit ihrer Tochter im Auto durch Brandenburg fuhr und so leidenschaftlich darüber referierte, wie wichtig es sei, mit dem "ersten Mal" zu warten, bis man sich gut kennt und vertraut, dass sie richtig Gas gab und ein Knöllchen bekam.

Oder wie Claudia, die sich ihren 16jährigen Sohn zur Brust nahm und ihm einschärfte, nie, aber auch wirklich nie ein Mädel anzufassen, das alkoholisiert ist.


Hatte gerade kein Chlamydien-Foto :-)


Aus dem, was ich bei Largo gelesen und von unseren Freunden gehört habe, ergeben sich für mich folgende Erkenntnisse:

  • Jugendliche ziehen beim Thema Sexualität vor allem die beste Freundin oder den besten Freund ins Vertrauen. "Sexualität ist ... Teil des Erwachsenenseins und gehört nicht mehr in das gemeinsame Familienleben. Eltern berichten ihrem Sohn am Frühstückstisch auch nicht, dass sie vergangene Nacht miteinander geschlafen haben." (Largo, Czernin, S. 55)
  • Die Aufgabe von Eltern ist es eher, dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen eine gute Beratung bekommen, zum Beispiel von einer verständnisvollen Frauenärztin. Kronprinz (16) habe ich gerade zu einem Check-Up bei unserem Hausarzt angemeldet, weil dieser in einem Gespräch mit meinem Mann angeboten hatte, auch sexuelle Fragen mit dem Prinzen zu besprechen. So eine Vertrauensperson außerhalb der Familie eignet sich viel besser dazu als Mama oder Papa. 
  • Die Kondome werden in unserem Haus beizeiten neben den Wattestäbchen im Bad stehen.
  • Hier ist ein guter Artikel über Chlamydieninfektionen und wie Jugendliche sich davor schützen können. Ich werde den Artikel ausdrucken und ins Gäste-WC hängen. Dort wird früher oder später alles gelesen. (Die Klo-Lektüre wird als erzieherisches Medium häufig unterschätzt.)
  • Maßnahmen wie Verbote, Kontrollen und Strafen gehen bei Jugendlichen meist nach hinten los. Das heißt aber nicht, dass Eltern sich gar nicht um das Thema kümmern sollten. Jesper Juul zufolge brauchen Kinder in der Pubertät ihre Eltern als "Sparringspartner". Sie wollen kein Wischiwaschi oder - noch schlimmer - Desinteresse, sondern Erwachsene, die einen klaren Standpunkt haben und dafür einstehen. Dann können die Jugendlicher selber gucken: Wer will ich in Bezug auf diesen Standpunkt sein? 
  • In eine gute Beziehung zum Kind investieren und in irgendeiner Form immer in Kontakt bleiben. Meine Freundin Lisa erzählte, dass häufig gute Gespräche entstehen, wenn sie ihren 17jährigen Sohn vom Schlagzeugunterricht abholt. Im Auto neben einander zu sitzen, habe so etwas entspannt Beiläufiges. Außerdem meinte sie, dass das Musikmachen seine Gehirnhälften besser vernetze. 

Noch ein Zitat von Largo, das ich so schön fand (wo kriege ich bloß die ganzen Shabby-Rahmen her?):
"Oft kommen mir Jugendliche mit ihren Ansprüchen, die sie etwa bezüglich Treue und gegenseitiger Unterstützung an sich selbst und ihren Partner stellen, moralischer vor als viele Erwachsene."

Immer fröhlich bei der Aufklärung im Hintergrund präsent sein

Eure Uta

Mittwoch, 19. Februar 2014

Gastbeitrag


Heute bin ich zu Gast auf dem wertvollen Blog von Sonja.

Ich freue mich sehr, liebe Sonja, dass ich bei deiner Interview-Reihe dabei bin.

Immer fröhlich dem Link folgen

Eure Uta

Dienstag, 18. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 200: Raum lassen


In dem Post "Der Elternautomat" habe ich einmal dieses Zitat gebracht:


"Es gibt einen Raum zwischen Reiz und Reaktion."

Diesen Satz entdeckte Stephen R. Covey, als er als Student in der Bibliothek in einem Buch blätterte, und der ihn wie ein Blitz traf. In seinem Hörbuch "Der Weg zum Wesentlichen" beschreibt Covey, wie bedeutsam der Satz in seinem Leben geworden ist.

Im Umgang mit den Kindern ist mir der Raum zwischen Reiz und Reaktion auch sehr wichtig.

Als meine Eltern im vergangenen Sommer zu Besuch waren, saßen wir auf der Terrasse bei Kaffee und Kuchen. Ich brachte noch Zucker und Milch hinaus und fand an der Tafel nur noch einen Platz in der prallen Sonne, während seine Durchlaucht, der Kronprinz (da noch 15), unter dem großen Schirm im Schatten trohnte. 

Unmut regte sich über den Kuchenstreuseln. 

Meinen Eltern war anzusehen, dass sie vom Prinzen einen Platztausch erwarteten. Und meine Schwester fing an, ihren Sohn zu bearbeiten, damit er seinen Schattenplatz für die Tante räume. 

Meine erste Reaktion war Unwohlsein. 

Wenn der eigene Sohn paschamäßig im Schattenwurf des Schirmes sitzt und keine Anzeichen macht, auf den sozialen Druck von allen Seiten der Kaffeetafel zu reagieren, fällt zwar weiterhin viel Sonne auf Mutter, aber kein gutes Licht auf mich als Elterntrainerin. 

Zum Glück hielt ich dieses kleine Unwohlsein aus (= Raum).

Der Wunsch, mein Sohn möge sich als höflich erweisen und ich würde als Tochter und Schwester dafür Anerkennung bekommen (=Reiz), wurde von mir ausgesessen (= Raum).

So hatte ich Zeit zu spüren, dass die Sonne mir tatsächlich wohl tat und ich gar nicht mit den halbwüchsigen Schattenmännern tauschen wollte, und bestand schließlich darauf, dass Sohn und Neffe  sitzen blieben (= Reaktion).


Mit Prinzessin und Kronprinz auf dem Dach des Gasometer in Oberhausen.


Berufs- und persönlichkeitsbedingt habe ich noch weiter drüber nachgedacht. 

War ich wieder zu nachgiebig?

Hat Kronprinz vielleicht zu wenig Empathie?

Die Fragen beantworteten sich wenig später von selbst.

Als Kronprinz und ich am Abend über seine Pläne für das Wochenende sprachen, meinte er plötzlich: 

"Ach, da hast du doch den Termin, auf den du dich so freust."

Tage war es her, dass ich den Termin erwähnt hatte, deshalb war ich so beglückt, dass er sich daran erinnerte, meine Gefühle wahr genommen hatte und auf meine Pläne Rücksicht nahm. 

Und mir wurde wieder klar,

  • dass entscheidend ist, wie wir mit einander sind (Jesper Juul), diese Stimmung erzieht, nicht die Einzelmaßnahme. 
  • dass wir mit unseren Kindern manchmal Dressurnummern vorführen, um als Eltern besser da zu stehen
  • dass es immer wieder hilft, inne zu halten und einen Raum zu lassen, zwischen dem ersten Reiz und der Reaktion


Immer fröhlich den Schattenmännern vertrauen. In ihnen ist so viel Licht!

Eure Uta

Mittwoch, 12. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 199: Einfach zu lau


Leser dieses Blogs wissen, dass meine Fußpflegerin eine besondere Frau ist. Gestern war sie wieder da und sagte:

"Frau A., Sie sind einfach zu lau." -

"Ich bin zu lau?" -

"Ja."

Ich würde mich häufig mit dem zurückhalten, was ich denke. Und dann würde ich auch zuviel denken, anstatt beherzt zu sagen und zu tun, wovon ich wirklich überzeugt sei.

Sie hielt einen kleinen Vortrag über den Verstand, der direkt vom Ego gesteuert sei, und landete schließlich bei der Wahrheit des Herzens.

Der Motor von der elektrischen Nagelfeile brummte. Aber sie war noch nicht fertig mit ihrem Vortrag.

Wenn ich Familien wirklich helfen wollte, dann müsste ich auch bereit sein, schmerzhafte Wahrheiten auszusprechen und bis an meine Grenzen zu gehen. Mit "positivem Denken" allein sei niemandem geholfen. "Sie brauchen den Mut, den Finger auch mal in die Wunde zu legen. Und ich weiß, dass Sie diesen Mut haben."

Sie drückte meinen Fuß mit dem entzündeten Zeh, der bei ihr auf dem Schoß lag. Das war sehr anschaulich, was Wunde und Schmerz angeht.

Wir sind dann wegen der Wahrheit des Herzens mit den Füßen kaum mehr fertig geworden (die rechte Ferse blieb ungehobelt), aber sie musste zur nächsten Kundin. Und ich stürzte zu den Lernentwicklungsgesprächen mit Kronprinz (16) und Prinzessin (13) in die Schule.

Die Gespräche waren gut, davon möchte ich gar nicht schreiben.

Ich möchte von der ganz persönlichen Wahrheit schreiben, die wir alle in uns tragen, und davon, dass wir oft nicht den Mut haben, sie zu leben.

Gar nicht lau - Prinzessin (13) beim Kartfahren.

In Erziehungsfragen zum Beispiel.

Was lassen wir uns verunsichern?!

Fruchtzwerge, ja oder nein?
Früh einschulen?
Hausaufgaben vor dem Spielen oder danach?
Druck ausüben beim Klavierüben?
Helmpflicht beim Radfahren?
Plastikspielzeug oder nicht?

Dabei hat jeder Themen, bei denen ist er oder sie glasklar.

Bei mir war immer glasklar:
  • Toben auf dem neuen Sofa geht gar nicht (erlaubt auf den alten Matratzen)
  • mit Schuhen ins obere Stockwerk ist verboten
  • Hauen kann ich noch durchgehen lassen, aber Treten kann ich nicht akzeptieren
  • außerdem habe ich eine persönliche Abneigung dagegen, dass Kinder andere Kinder auf den Helm hauen, wenn sie ihn auf dem Kopf tragen; ich weiß, es passiert nichts, aber da musste ich immer einschreiten
  • dafür war mir ein fröhliches Essen immer wichtiger als gefeilte Tischmanieren
  • Kreativität hat für mich Priorität vor Ordnung
  • Gesundheit und Fröhlichkeit hat für mich Vorrang vor guten Schulnoten

Für mich. 

Für euch werden andere Punkte gelten.

Ich habe oft an meinen Durchsetzungsfähigkeiten gezweifelt, bis mir klar wurde, dass ich die Dinge, die mir wirklich wichtig sind, problemlos durchsetzen kann. Und die anderen sind mir dann offensichtlich nicht so wichtig. Da muss ich mir dann auch keinen Kopf machen, Versagensängste haben oder mich anderen Eltern gegenüber schlecht fühlen.

Mögt ihr mir schreiben, welche Dinge ihr problemlos durchsetzen könnt (... und welche in Folge dessen wohl die wirklich wichtigen Dinge für euch sind)?

Hört auf, lau und lasch zu sein, und lebt fröhlich und mutig eure ganz persönliche Wahrheit

Uta

Freitag, 7. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 198: Mama im schwarzen Loch


Als ich noch keine Kinder hatte, war ich als Journalistin zusammen mit einer Fotografin auf einem Reportage-Termin. Die Fotografin war schwanger und ich fragte sie, wie sie das Weiterarbeiten nach der Geburt organisieren wolle.
Ich hatte damals gar keine Frage dazu, ob sie mit Baby weiterarbeiten würde. Schließlich machte die Fotografin Jobs für ein angesehenes Wochen-Magazin. Und ich war mir sicher, dass sie diesen Job nicht aufgeben wollte.

Aber die Fotografin guckte mich nur groß an (größte Blende überhaupt) und sagte: "Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht, was für ein Kind ich bekommen werde."

Wenig später wurde ich schwanger. Zwar war ich fest entschlossen, die ersten drei Jahre zu Hause bei dem Kind zu bleiben, aber es sprach ja nichts dagegen, zehn Monate nach der Geburt für zwei Wochen  als Referentin auf eine Journalisten-Fortbildung nach Süddeutschland zu verschwinden.

Der Kronprinz wurde geboren, ein paar Monate gingen ins Land und der Termin meiner Abreise rückte gefährlich nahe. Seine kleine Majestät nahm gerne mehrfach täglich die Brust und hielt nichts, aber auch gar nichts von Flaschen-Milch. Wir probierten alle Saugertypen durch, Ventilbecher und was der Baby-Markt so hergab, aber unserem Baby ging es ums Prinzip.

Schließlich wurde aus der ganzen Aktion ein rüdes Zwangs-Abstillen und ich saß mit der Oberweite meines Lebens im Zug nach Nürnberg.

Mein Mann hatte sich zum Glück zwei Wochen Urlaub nehmen können und blieb mit dem kleinen Kronprinzen zu Hause.

Nach einer Woche Seminar setzten sich meine Männer ins Auto und besuchten mich im Tagungshotel.

Aber das Kind war sichtlich irritiert.

Die Mama, die wie in ein schwarzes Loch verschwunden war und mit deren Ableben es sich offensichtlich abgefunden hatte, war plötzlich wieder da. Aber man sah, dass Kronprinz der ganzen Sache nicht mehr traute.
Und als der Milch-Mann (Papa) das erste Mal nach dem Wiedersehen mit Mama auf Toilette gehen wollte, wollte Kronprinz nicht bei Mama bleiben und brüllte wie am Spieß. Der Kleine musste mit auf die Toilette. So ging es dort die ganze Zeit.

Wahrscheinlich hatte er vor Augen, wie Papa sich durch das Oberlicht quetscht und mit den Pulvermilch-Tüten auf der Autobahn davon braust und nie wieder auftaucht. (Da so Kleine noch kein Zeitgefühl haben, beginnt "nie" nach sehr kurzer Zeit.)

Die Fotografin hatte damals gesagt, sie wisse nicht, was für ein Kind sie bekommen werde.

Ich finde es bewundernswert, wenn jemand die Ruhe und die Zuversicht hat, die neue Situation erst einmal abzuwarten und dann angemessen darauf zu reagieren. Da ist so viel Respekt vor dem neuen Menschen und für sich selbst in der neuen Situation als Mutter.

Die kleinen und größeren Jobs, die ich mir für die Zeit nach der Geburt organisiert hatte, haben uns alle sehr gestresst. Von großer Unruhe beim Kronprinzen bis zur Brustentzündung bei mir. Und später war es viel schwieriger, ihn mal fremd betreuen zu lassen, als bei Prinzessin, die als Baby nicht erleben musste, dass ich tagelang verschwand.

Gerade lese ich einen dicken Wälzer über Bindungstheorie. Dort wird klar, wie wichtig die Nähe vertrauter Menschen für den Säugling ist.

"Alle Sinne von Neugeborenen sind speziell auf die Reize geeicht, die von anderen Menschen ausgehen, ... : Es betrachtet lieber menschliche Gesichter als andere Muster, und es horcht konzentrierter auf die Stimme einer Frau, besonders die seiner Mutter, als auf irgendein anderes Geräsuch. Einen Tag alte Neugeborene unterscheiden feinsinnig zwischen dem Schreien eines anderen Neugeborenen und künstlich erzeugtem Schreien gleicher Lautstärke. ... Ein Finger aus Holz löst seinen Greifreflex weniger nachhaltig aus als ein ebenso dicker menschlicher Finger." (Karin Grossmann/Klaus E. Grossmann: Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart, 2012, 5. überarbeitete Auflage, S. 103)

Mit Kronprinz vor 16 Jahren und einige Monate, bevor ich auf das Seminar verschwand.

Ein Baby braucht konstant und verlässlich einen fürsorglichen anderen Menschen, der mit ihm interagiert: Körperkontakt, Sprechen, Mimik, Gestik, vertraute Gerüche, Lachen, Knuddeln. Es braucht nicht unsere ganze Aufmerksamkeit und auch kein spezielles Förderprogramm, sondern eine beiläufige Nähe.
"Eine distanzierte Erziehung ist nach zahlreichen ... entwicklungspsychologischen Forschungen entwicklungshemmend (...). Vergleiche mit verschiedenen Kulturen und internationale Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass körperliche Nähe und eine umsichtige, eher nachgiebige Erfüllung kindlicher Bedürfnisse zu höherer sozialer Kompetenz führen." (ebda S. 106) 
Im Supermarkt vorgestern schrie ein Mädchen von etwa drei oder vier Monaten. Die Mutter machte ihre Besorgungen, eine ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter oder Schwiegermutter, folgte der jungen Frau und schob das Fahrgestell mit der Babyschale und dem Kind darin.
Die einzige Reaktion, die die ältere Frau auf das schreiende Kind zeigte, war: Rütteln. Die ganze Zeit rüttelte sie an dem fahrbaren Gestell, ohne dass das irgendeine Wirkung zeigte. Dabei schaute sie abwesend auf die Saure-Sahne-Paletten. Kein Auf-den-Arm-Nehmen, kein freundliches Wort, kein Blick-Kontakt.

Irgendwann hörte das Schreien auf und ich sah, dass das Mädchen mit Schnuller im Mund eingeschlafen war. Ich fürchte allerdings, es hatte sich nicht beruhigt, sondern es hatte resigniert.

Es kann gut sein, dass die beiden Frauen, die ich beim Einkauf sah, sonst sehr liebevoll und fürsorglich sind. Ich will mich gar nicht über sie erheben, schließlich war ich sogar tagelang ganz verschwunden und konnte nicht mal rütteln (was allerdings sogar gesundheitsgefährdend ist).

Ich schreibe dies, weil man am Anfang vieles nicht weiß oder sich bewusst macht. Das hat was mit Professionalität zu tun, die einem auch als Eltern sehr helfen kann.

Immer fröhlich um die ganz Kleinen herum-menscheln

Eure Uta

Ps1: Joanna hat hier ganz wunderbar darüber geschrieben, dass Mütter sich nicht von der Sorge verrückt machen lassen sollten, den beruflichen Wiedereinstieg nicht zu schaffen. Guckt mal unter Punkt 4.

Ps2: Das Seminar, für das ich gearbeitet habe, als Kronprinz noch so klein war, hatte keinerlei Bedeutung für das, was ich heute beruflich mache.

Sonntag, 2. Februar 2014

Glückliche Familie Nr. 197: Wie Basti sich innerlich abrackert


Neulich bekam ich in einem Kreis von Müttern diese Geschichte mit:

Eine Frau, die sich vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt hatte, lebt allein mit ihrem zwölfjährigen Sohn und ihrer Mutter.

Oma kocht und backt und führt den Haushalt.
Mutter arbeitet, um alle zu versorgen.
Sohn ist bockig.

Weil er seine Hausaufgaben nicht pünktlich erledigte, wurde das iPad kassiert.
Oma kocht und backt und macht auch noch Cafeteria-Dienst in der Schule. Aber was sie mit dem Jungen tun soll, der sich immer wieder dieses "i-Dings" holt, weiß sie nicht.
Die Tochter hat es schließlich weggeschlossen. Punkt. Aus. Keine Widerrede.

Kürzlich eskalierte die Situation.
Wichtige Arbeitsunterlagen der Mutter waren verschwunden, als sie morgens zu einem neuen Arbeitgeber fuhr.
Sohn war in der Schule.
Oma stellte sein Zimmer auf den Kopf und fand die Arbeitsunterlagen hinter seinem Bett.

Omas Blutdruck in der Situation wollt ihr nicht wissen.

Aber wissen müsst ihr, dass Mutter einen neuen Partner kennengelernt hat und mit Sohn und Mutter in seine Nähe nach Hannover ziehen will und dass ...
Bastian sein altes Umfeld und seine Freunde verlassen und auf eine neue Schule gehen wird, eineinhalb Jahre nach seinem Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium.

Oma und die versammelten Mütter sind sich einig, dass Bastian ein schlimmer Junge ist, dem "mal endlich Grenzen gesetzt werden müssen".

"Jetzt reicht es wirklich mit dem Basti", schnauft seine Oma. "Ich habe ihm schon gesagt, er darf gerne zu seinem Vater ziehen. Dann wird er schon sehen, wie der sich um ihn kümmert. Aber das ist mir jetzt auch egal."

Synchrones Nicken bei den Frauen.

Alle bedauern die Oma. "Das hat die Heide doch wirklich nicht verdient, wo sie sich so abrackert für den Jungen und die Tochter." - "Und die arme Melanie! Kommt abends von der Arbeit, und zu Hause ist nur Krieg."

"Und der arme Basti", hob ich an, "so eine große Umstellung ...."

Aber das wollte niemand hören.

Jesper Juul sagt:


Es gibt keine Eltern, die ihre Kinder nicht über alles lieben.

Und es gibt keine Kinder, die ihre Eltern nicht über alles lieben. 


Aber Eltern und Kinder können diese Liebe häufig nicht umsetzen in liebevolles Verhalten, stattdessen herrscht "tiefe, schmerzhafte Frustration".

Mutter und Oma rackern sich ab, um die kleine Halb-Familie über die Runden zu bekommen. Aber so viel sie auch rackern, sie haben nicht das Gefühl, für Bastian wertvoll zu sein. Das tut weh und macht wütend. Und alle Erwachsenen schreien nach härteren Maßnahmen für den aufmüpfigen Jungen.

Dabei sehen sie nicht, wie Basti sich abrackert.

Es ist ein existentielles Abrackern tief in ihm drin.

Er muss den Spagat hinkriegen zwischen seiner Liebe zu Mutter und Oma und seiner Liebe zu seinem Vater, der von den enttäuschten Frauen gerne als Horrorkulisse inszeniert wird. "Na, auf den kann man sich gar nicht verlassen."

Er muss - umgeben von zwei Frauen, die gerade auf Männer nicht gut zu sprechen sind - seine männliche Identität finden, ohne dafür in seiner unmittelbaren Nähe ein Vorbild zu haben, jemand, der ihm alltäglich zeigt, wie man mit Frauen klar kommt.




Ihr könnt mir glauben, dass Basti sich abrackert, und es täte ihm gut, wenn das mal jemand anerkennen und verstehen würde.

Und bei dem ganzen inneren Ringen kommt jetzt auch noch ein neuer Mann für Mama, ein Umzug, der Verlust der Freunde, eine neue Schule ....

Noch Fragen?

Man kann froh sein, dass der Junge nur ein paar Arbeitsunterlagen versteckt hat und nicht Amok gelaufen ist.

Juul sagt, Kinder von alleinerziehenden Eltern würden sich schnell zu viel Verantwortung aufbürden, aber aufhören zu kooperieren, wenn sie nicht mehr können.

Das gelte besonders für das älteste oder das einzige Kind.

Nicht mehr kooperieren heißt: sie machen ihre Hausaufgaben nicht mehr, verweigern ganz die Schule, halten sich nicht an Abmachungen, werden aggressiv oder krank.

Ich beziehe mich hier auf das Hörbuch Familienberatung. Perspektiven und Prozess, von Jesper Juul, erschienen im Dezember 2013. (Das gibt es auch als Buch, aber ich nutze Hörbücher gerne beim Zusammenlegen der Wäsche).

Welche Hilfen kann man ableiten aus dem Hörbuch:
  • Eltern in einer alleinerziehenden Situation sind extrem beansprucht. Juul zufolge gibt es zwei ebenso extreme Antworten auf diese Überbeanspruchung: 1) totales Negieren eigener Bedürfnisse und sich ganz aufgeben für die Kinder oder 2) abstumpfen und taub werden für die Nöte und das Befinden der Kinder. Weil beides schädlich ist, ist es wichtig, die Verantwortung für sein eigenes  Leben und seine eigene Gesundheit zu übernehmen, ein Netzwerk aus anderen Erwachsenen zu gründen, sich Unterstützung zu holen.
  • sehen und anerkennen, welche Kooperationsleistung das Kind vollbringt; es in Entscheidungen mit einbeziehen (Ja, wir gehen in eine neue Stadt. Was könnte es dir erleichtern, die Umstellung zu bewältigen? Soll ich die Eltern deines Freundes fragen, ob er bald nach dem Umzug ein Wochenende bei uns verbringen darf? ...) Und wenn Mutter mit ihrem Freund zusammen ziehen möchte, muss sie ihren Sohn fragen, wie und unter welchen Bedingungen er wohnen möchte. 
  • Nicht einfach abstrakte Grenzen setzen (iPad wegschließen). Das bleibt zu sehr an der Oberfläche und verhärtet die Situation nur. Sich als Mensch aus Fleisch und Blut einbringen, sagen, was geht für mich persönlich und unter welchen Bedingungen. z.B. "Ich weiß, der Umzug ist ein großer Einschnitt für dich. Wenn dir Computerspiele Entspannung bringen, kann ich akzeptieren, dass du das im Moment brauchst. Mir ist nur wichtig, dass du in der Schule den Anschluss nicht verpasst und für die neue Schule nicht so ein schlechtes Zeugnis hast. Was kann dir dabei helfen?....

Huch, das war jetzt viel Text. Könnt ihr noch einigermaßen fröhlich bleiben?

Das wünscht euch auf jeden Fall

Eure

Uta