Dienstag, 24. Juni 2014

Glückliche Familie Nr. 227: Die Internet-Schleuse


Heute morgen habe ich in einem Buch gelesen, das "Eltern-Trickkiste" heißt und Ideen zur Lösung sämtlicher familiärer Probleme verspricht. Überraschend fand ich den Hinweis einer Kinderärztin, dass eher nasskalte Füße zu Mittelohrentzündung führen als die Weigerung, eine Mütze zu tragen. Wenn es also wieder Herbst wird, könnt ihr euch den Mützenkampf sparen (und den gefütterte-Gummi-Stiefel-Kampf führen.)

Als ich das Trickbuch für Eltern durchblätterte, fiel mir ein, dass der einzige "Trick", der mir jemals in meinem Leben als Mutter geholfen hat, der Hinweis auf die Kindersicherung im Router war.
Router ist die Kiste, die direkt mit dem Telefonanschluss verbunden ist und den Zugang aller internetfähigen Geräte des Haushalts ins weltumspannende Netz regelt.

Es gibt Router mit und ohne Kindersicherung. Bei denen mit Jugendschutz könnt ihr die Seite mit den Router-Einstellungen auf dem Computer aufrufen und dort für jedes Gerät mit Internetzugang in der Familie eine Schleuse einrichten. Zum Beispiel "Tims iPad: täglich eine Stunde und nur zwischen 17 und 20 Uhr". Hier findet ihr eine Anleitung, wie ihr für einen Router der Marke Fritz-Box solch eine Kindersicherung einrichtet. Ich habe es auch geschafft. Das sollte als Ermutigung reichen, denn bis vor kurzem hielt ich "Router" noch für einen Begriff aus der Hundezucht.

Leider hat nicht jeder Router eine solche Jugendschutz-Funktion. Aber solltet ihr euch sowieso gerade einen neuen Router zulegen wollen, nehmt nur einen mit Kindersicherungs-Option.

Meine Kinder sind jetzt 13 und 16 Jahre alt. Bei ihnen ist  Hopfen und Malz verloren  die Kindersicherung nicht mehr so dringlich. Der Kronprinz ist für den Jugendschutz zu alt. Aber bei Prinzessin (13) bin ich froh, dass ich den Router so einstellen konnte, dass sie nach 22 Uhr nicht mehr ins Internet kann. Da ihre Mutter unter dem Einfluss sämtlicher Veröffentlichungen Jesper Juuls steht, haben wir das natürlich so lange verhandelt, bis wir der Lösung beide zustimmen konnten. ("Schatz, eigentlich bist du der Experte für dein Schlafbedürfnis, aber ich habe den Eindruck, es würde dir gut tun, wenn ...")

Der große Vorteil der Router-Kindersicherung ist, dass ihr nicht jeden Tag Polizei spielen und durchsetzen müsst, dass vereinbarte Zeiten eingehalten werden. Ist die eingestellte Zeit abgelaufen, bricht die Verbindung einfach ab. Ich liebe technische Lösungen.

Auch Vorhängeschlösser sind dann überflüssig. 

Unter Experten herrscht Einigkeit darüber, dass Kinder unter 10 Jahren nicht unbeaufsichtigt im Internet surfen sollten. Aber seitdem schon Dreijährige auf Mamas Smartphone spielen, halte ich diese Maßgabe für so durchsetzbar wie Fahrradhelm-Pflicht für Teenager mit Glätteisen-Styling.

In meinen Elterntrainings habe ich auch geraten, sich dazu zu setzen und sich dafür zu interessieren, was die kleinen Nerds so treiben. Ich stand auch zu diesem Rat, bis ich merkte, dass ich immer seekrank werde, wenn ich rasanten Verfolgungsfahrten beiwohnen oder mit taumelnden Figuren auf schwankende Rampen hüpfen sollte, wo uns eine heruntersausende Betonplatte erwartete. Mir wird davon so übel, dass ich mich hinlegen muss und als Computer-Begleitperson ein Totalausfall bin.

Obwohl ich permanente Begleitung an "ihren" Medien nicht für umsetzbar halte, finde ich es bei diesem Thema wichtig, ein paar Grenzen zu setzen.

Ich fasse mal zusammen, was meiner Erfahrung nach empfehlenswert ist:

  • Die Medien der Kinder nicht verteufeln, sich als Eltern dafür interessieren, sich mal zeigen lassen, welche Geschicklichkeit sie da erworben haben, nach Alter gestafffelt zeitliche Grenzen setzen.
  • Beim Grenzensetzen einen Router mit Kindersicherung nutzen.
  • Router werden gerne im Gesamtpaket vom Provider gratis mitgeliefert. Hier einmal "Stopp" rufen und fragen, was das Modell so bietet. Bei uns ergab das Nachfragen, dass sogar das Standard-Modell diese Möglichkeit ohne Aufpreis enthält. Nicht locker lassen! Die Leute im Call-Center sind dafür meistens nicht geschult. Lasst euch weiter verbinden oder bittet sie, es für euch zu recherchieren und dann zurückzurufen. 
  • Im Router die Jugendschutzfilter aktivieren (darauf ist wohl nicht hundertprozentig Verlass, aber besser als nichts).
  • Dort einrichten, wann und wie lange welches Kind ins Internet darf.
  • Solch eine Schleuse ist sinnvoll, bis sie 13 oder 14 Jahre alt sind. Danach muss der Jugendliche eigenverantwortlich damit umgehen können. Wenn nicht, sollte man sich nicht in hoffnungslose Kämpfe verbeißen, sondern Mantras malen und sich in Geduld üben.
  • Unbedingt das Buch "Netzgemüse. Aufzucht und Pflege der Generation Internet" von Tanja und Jonny Haeusler lesen. Unsere Kindersicherung per Router verdanke ich diesem Buch. Die Autoren sind Experten für Themen wie Internet, Social Networks, Videospiele und Smartphones und haben zusammen zwei Söhne im brisanten Alter.
  • "YouTube ist ... das Fernsehen der Generation unserer Kinder", schreiben die Haeuslers (S.75). Um es ein wenig kindersicherer zu machen, solltet ihr auf dem Rechner, den das Kind benutzt, den "sicheren Modus" für YouTube einschalten. Dazu scrollt ihr die YouTube-Seite ganz runter und findet dort einen Button "Sicherer Modus: an/aus".
  • Für Kinder unter zehn Jahren bieten Router mit Jugendschutz-Option die Möglichkeit, "White"-Listen einzurichten. Dann kann ich drei oder vier Internetseiten für sie in der Liste verlinken und sie kommen auf nichts anderes drauf als auf diese Seiten. Es gibt auch eine "Black"-Liste für alle Seiten, auf die sie auf keinen Fall kommen sollten. Aber wer weiß schon, was es da alles gibt. Deshalb finde ich die "White"-Liste für Grundschulkinder optimal. Und sie kann ja mit dem Älterwerden erweitert werden. 

Ist das hilfreich für euch? Welche Fragen sind noch offen? Was hat sich bei euch beim Thema Kinder- und Jugendschutz bewährt?

Immer fröhlich bleiben, nicht alles abwerten, was die Kinder so begeistert, und den Mumm haben, ein paar Grenzen zu ziehen.

Eure Uta  

Mittwoch, 18. Juni 2014

Glückliche Familie Nr. 226: Leichtigkeit und Liebe nähren


Heute morgen 7:30 Uhr in Hamburg. Ich wecke Prinzessin (13) und sehe im Augenwinkel meine geliebten Ohrstecker, die ich ihr am Wochenende geliehen hatte, zwischen Nagellackfläschchen, "Best-friend-for-ever"-Briefchen und Kopfhörerkabeln auf der Fensterbank liegen.
Ich lege die Stecker zurück in ihr Kästchen und in meinem Kopf den Ärger-Schalter um.

Ich stürme mit einem Schlachtruf zurück in ihr Zimmer. "Wer hat meine Ohrstecker vergammelt? Wer gehört mal so richtig durchgekitzelt?"
Ich reiße die Bettdecke weg, rufe, dass meine Finger die Beine sind von riesigen, haarigen Spinnen und lasse sie überall hinkrabbeln: in den Nacken, unter die Arme, in die Kniekehlen ... Prinzessin quiekt, ich quieke. Wir haben Spaß.

Leben darf leicht sein.

Leben ist keine Pisa-Studie, kein Wettkampf, kein Gipfeltreffen für Moralapostel.

Leben ist ein Spiel.

"Das Spiel kann man nicht gewinnen, nur spielen." (aus dem Film "Die Legende von Bagger Vance") 



Kronprinz und Prinzessin auf dänischer Wanderdüne.

Ben, der Sohn einer Freundin, ist einer der Besten seiner Klasse in Englisch. Seine Mutter hat mir erzählt, woran das liegt.
Bens Oma hat viel im Bett gelegen, weil sie Multiple-Sklerose hatte. Ben durfte sich dazu kuscheln, und seine Oma hat ihm Reime und Lieder vorgetragen. Alles auf Englisch, weil sie in der Nähe von London geboren und aufgewachsen war.
Die Oma ist gestorben, als Ben noch klein war, aber ihre Reime und Lieder sind wie ein belebendes Erbe für sein Sprachzentrum.

Lernen geht fast nur in guter Beziehung und mit guten Gefühlen. Dann verbinden sich Gehirnzellen in Rekordtempo, Synapsen entwickeln sich vom Trampelpfad zur Autobahn, sechsspurig.

Ist das nicht genial von der Natur? Sie ist so angelegt, dass sie uns mit Erfolg belohnt, wenn wir gute Gefühle haben und in liebevoller Gemeinschaft leben.

Vergesst den Englisch-Kurs für Klein-Kinder, pfeift auf jedes sogenannte "Bildungsprogramm" in der Vorschule. Guckt nach Menschen, die eure Kinder mögen und das Leben lieben. Was die ihnen beibringen, ist viel wirksamer als all das Zeug aus den Bildungsplänen.

Beschwert euch in der Schule nicht über den unfähigen Geo-Lehrer oder den Stundenausfall. Meldet euch im Festkomitee und hängt die Girlanden auf! So wie wir das machen bei dem Fest von Kronprinz (16) zum Abschied aus dem Klassenverband der 10. Klasse. Wir bauen am Elbstrand eine festliche lange Tafel auf für 80 Leute und werden feiern, bis uns die Kinder heimschicken.

Immer fröhlich Leichtigkeit und Liebe nähren.

Eure Uta

Montag, 16. Juni 2014

Glückliche Familie Nr. 225: Morgen oder schon übermorgen


Mein Vater (82) sagt: "Je älter ich werde, desto mehr rast die Zeit."
Menschen empfinden das so, weil das Jetzt, das sie erleben, so kurz erscheint im Verhältnis zu all dem, was sie schon erlebt haben.




Bei einem Kind ist es genau umgekehrt. Weil alles noch vor ihm liegt, kann sich der Moment zu einer köstlichen Ewigkeit dehnen. Aber es macht sich sowieso keine Gedanken über die Zukunft. Kinder leben im Jetzt.

Erwachsene vergessen immer wieder, dass Kinder noch keinen linearen Zeitbegriff haben. Erst mit ungefähr 9 Jahren ist ein Kind dazu fähig vorherzusagen, wie viel Zeit eine Handlung beanspruchen wird (Jean Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Zürich 1955).

Wenn ich einem Vierjährigen sage, dass ich in drei Stunden wieder da bin, hat er keine Vorstellung davon, wie lange das ist. Deshalb machen wir es anschaulich: "Wenn der kleine, dicke Zeiger auf der Zwölf ist und der lange, dünne Zeiger ..."

Ein Kind wird heftig bestreiten, dass die halbe Stunde mit seinem Freund in der Matschpfütze genauso lang gedauert haben soll wie die halbe Stunde, als es gewartet hat, bis Oma mit dem Geburtstagsgeschenk kam.

Für ein Kind ist ein großer Stein älter als der kleine Stein, der daneben liegt.




Freunde erzählten uns, dass ihre kleine Tochter sehr wütend auf ihre Eltern war. Sie stemmte ihre Hände in die Taille, stampfte mit dem Fuß auf und brüllte: "Ich ziehe hier aus. Morgen, wenn nicht schon übermorgen."

Die Managementtrainerin Vera F. Birkenbihl hat Teilnehmer ihrer Seminare aufgefordert, die Zeit zu malen. Über 80 Prozent der Erwachsenen zeichnen einen Pfeil, ganz wenige zeichnen einen Punkt. Die Zeit, die eher ein Punkt ist, ein Augenblick, in dem man erfüllt ist, von dem, was man gerade tut, bezeichneten die alten Griechen als "Kairos".

Das Leben von Kindern besteht - wenn man sie lässt - aus "Kairos"-Zeit.

Wir Großen müssen es erst wieder mühsam lernen.

Seit zehn Tagen mache ich jeden Mittag 20 Minuten lang nichts. Ich sage den Kindern: "Und wenn der Papst anruft, ihr stört mich nicht." Ich schließe die Schlafzimmertür*, setzte mich auf mein Bett und schaue den Schrank an. Eine Invasion von Gedanken stürmt durch mein Hirn, aber ich stelle mir vor, dass ich hinter einem Wasserfall in einer Höhle sitze und alles, was durch meinen Kopf geistert, den Wasserfall nach unten schicke.*

Manchmal nicke ich ein in diesen 20 Minuten und werde von der Piepsuhr aus dem Dämmerzustand gerissen. Aber meistens entsteht so ein wattiges Gefühl. Auf jeden Fall fühle ich mich danach erfrischt und klarer ausgerichtet. Ich krempele die Ärmel hoch und arbeite mit mehr Freude und effektiver.

Eckhart Tolle schreibt:
"Nur wenn der Lärm des Denkens abebbt und sich genügend Stille in uns ausbreitet, erkennen wir, dass eine verborgene Harmonie da ist, eine Heiligkeit, eine höhere Ordnung, in der alles seinen perfekten Platz hat ..." (aus: Eckhart Tolle: Eine neue Erde, S. 205) 

Zunächst wollte ich euch hier Tipps geben, wie ihr damit umgehen könnt, wenn Kinder trödeln. (Je stärker wir Erwachsenen eingebunden sind, desto mehr werten wir das, was Kinder tun, als "trödeln" ab.)
Ich dachte an so Tricks wie 'wir machen ein Anzieh-Wettrennen' oder 'wir spielen Feuerwehr und wir müssen schnell in den Kindergarten, weil es dort brennt'. Aber dann war es mir zu blöd, dazu beizutragen, dass schon Dreijährige reibungslos funktionieren.

Was ich mir wünsche, ist,
  • dass Kindern nicht das "Kairos"-Leben ausgetrieben wird
  • dass ihre Eltern immer wieder Stunden oder Tage einschieben können, wo sie und die Kinder einfach in den Tag leben können
  • dass Eltern verstehen, dass freies Spiel (besonders im Vorschulalter) deutlich lehrreicher ist als das, was wir Erwachsenen unter Lernen verstehen

Der Kronprinz (16) meinte übrigens, der Papst ließe ausrichten, er werde später noch einmal anrufen.

Immer mal fröhlich nichts machen.

Eure Uta


* Man kann sich auch in der Mittagspause auf eine Parkbank setzen und einen Baum anschauen oder die Bürotür abschließen und in das Licht einer Kerze sehen.

** Diese Idee stammt aus dem wunderbaren Buch "Enjoy your life" von Martha Beck.

Dienstag, 10. Juni 2014

Glückliche Familie Nr. 224: "Du ahnst es nicht."


Eine Freundin hat mir erzählt, dass ihr Sohn (11) in letzter Zeit freche Antworten gibt und sich sehr respektlos verhält.

Eine andere Freundin klagte über ihre Tochter (15), die unbedingt mit Kick-Boxen beginnen wollte, jetzt aber unter fadenscheinigen Gründen häufig das Training ausfallen lasse.

Als ich beim Ausgraben einer Rose über beide Gespräche nachdachte, fiel mir auf, dass offensichtlich niemand die Frage nach dem 'warum' gestellt hatte.

Das ist ja eine ganz schlichte Sache, wird von uns Erziehungsberechtigten aber gerne vergessen.

Sich Zeit nehmen, sich hinsetzen, Hirn von Vorurteilen befreien und sagen: "In letzter Zeit fühle ich mich von dir so respektlos behandelt. Ich bin sauer und ratlos. Gibt es dafür einen Grund, den ich nicht ahne."

"Du ahnst es nicht!" ist ein geflügeltes Wort bei Prinzessin (13). Ich glaube, sie hat recht. Wir Erwachsenen ahnen häufig nicht, was in ihnen vorgeht und machen uns nicht die Mühe, es zu ergründen.

Hat meine Freundin die Tochter gefragt, warum ihr beim Kickboxen die Begeisterung abhanden gekommen ist? Hat der Trainer eine blöde Bemerkung gemacht? Fühlt sie sich nicht wohl in der Trainingsgruppe? Hatte sie andere Vorstellungen von dem Sport?

In seinem Buch über Prinzipien für starke Familien erzählt Stephen R. Covey von einem kleinen Jungen, der nie im Haus seines Freundes spielten wollte, bis die Mutter ergründete warum: Der Junge hatte Angst, sich in die Hose zu machen, weil er nicht wusste, wo sich dort im Haus die Toilette befand.

Covey berichtet auch von einem guten Freund, der Probleme mit seinem pubertierenden Sohn hatte. Der Freund behauptete, genau zu wissen, was in dem Jungen vorgehe, bis Covey sagte:

"Du solltest einmal davon ausgehen, dass du gar nichts über den Jungen weißt! Fang noch einmal ganz von vorne an: Hör ihm einfach zu, ohne ihn zu beurteilen oder zu bewerten." (Stephen R. Covey: Die 7 Wege zur Effektivität für Familien. Prinzipien für starke Familien. Offenbach 2007, S. 25)
"Solange wir in der Rolle des Richters verharren, haben wir so gut wie nie den Einfluss, den wir uns wünschen." (ebd. S. 262

Was wohl in ihm vorgeht? Kronprinz (16) am Nordseestrand. 

In der Pubertät, heißt es, ist das Gehirn so stark im Wandel, dass man ein Schild an die Stirn des Jugendlichen heften könne: "Wegen Umbau geschlossen."
Wenn Eltern von "Pubertieren" sich auf Partys unterhalten, kann man die Feigen im Speckmantel darauf verwetten, dass irgendeiner so einen Spruch bringt.
Ich finde das billig. Ich will auch nicht, dass mich jemand mal in eine Wechseljahres-Schublade steckt oder mir sonst irgendein Schild anhängt.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich einer Gruppe von anderen Menschen zugehörig zu fühlen. Jeder Mensch, egal in welchem Alter.

Jeder sucht jemanden, der ihn versteht, ohne ihm ein Schild anzuhängen.

Wer kein Gehör findet bei seinen Freunden und nicht einmal bei seinen Eltern, verschafft sich Gehör (z.B. durch Leistungsverweigerung, Nicht-Kooperieren, Krankheit) oder zappt sich mit Drogen das Bewusstsein weg.

Hattet ihr schon einmal die Situation, dass euch ein Licht aufging und ihr ein Problem auflösen konntet, weil es euch endlich gelang, gut zuzuhören? Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mir eine solche Situation beschreiben könntet.

Immer fröhlich nach dem 'warum' fragen und gut zuhören.

Eure Uta

Mittwoch, 4. Juni 2014

Glückliche Familie Nr. 223: Engele flieg


Ich habe früher gedacht, ich müsste durch meine Stimmung unterstreichen, dass das, was das Kind getan hat, nicht erwünscht ist.

Sandkastensand im ganzen Garten verteilt, Blumentopf umgeworfen und Terrasse geflutet - also wird nicht nur geschimpft, sondern dem Kind durch abweisenden Gesichtsausdruck oder sogar Missachtung zu verstehen gegeben, dass dieses Verhalten nicht erwünscht ist.

Sonst habe ich es nicht so mit den Kategorien "richtig" und "falsch". Aber in dieser Sache kann ich sagen: das ist falsch. Und zwar so was von ...

Dass man spontan ausrastet, das Kind anbrüllt, die Förmchen in die Sandkiste pfeffert - geschenkt.

Dafür sind wir Menschen und keine Erziehungsroboter. Und jedes Kind ist froh, wenn es echte Menschen erlebt und nicht Leute, die pädagogisch wertvoll Eltern spielen.

Ein Kind (und überhaupt Menschen) mit Gefühlen zu manipulieren, ist Gift für das Selbstgefühl.
Dann geht es nicht mehr um die Sache, um Regeln, die eingehalten werden, Grenzen, die gewahrt werden sollen. Dann geht es um die Person. Und die trifft es ins Mark, wenn die Beziehung auf dem Spiel steht.

Denn das ist ja das, was gesendet wird: unsere Beziehung steht auf dem Spiel.

"Dann hat Mami dich nicht mehr lieb."

Ich hoffe, dass niemand mehr einen solchen Satz sagt, aber das Wirkprinzip, das da hinter steckt, wird unbewusst von Generation zu Generation weiter gereicht.

In meinem Elterntraining hatte ich mal angeregt, zur Feier der Zeugnis-Vergabe mit der ganzen Familie Pizza essen zu gehen. "Was?!", empörte sich eine Mutter. "Ich soll dieses miese Zeugnis auch noch belohnen? Das kommt gar nicht in Frage." Sie war entschlossen, wegen der schlechten Noten ihres Sohnes in der Familie anhaltend schlechte Stimmung zu verbreiten.

Hat schon mal jemand erlebt, dass die schulischen Leistungen besser werden, wenn Eltern ihr Kind mit schlechter Stimmung bestrafen?

Für mich ist es das Verdienst des 2011 verstorbenen Familientherapeuten Wolfgang Bergmann, deutlich gemacht zu haben, dass Eltern Grenzen setzen und das Band zwischen sich und dem Kind stärken können.

In seinem Buch "Warum unsere Kinder ein Glück sind" beschreibt er eine Situation im Supermarkt. Mutter steht mit ihrer dreijährigen Tochter in der Schlange an der Kasse, rechts und links Quengelware.  Die Kleine mault und meckert, will Kaugummi, unbedingt, nimmt sich Pfefferminz aus dem Regal, muss es zurücklegen, wirft sich heulend auf den Boden ...

Frei nach Bergmann ist Folgendes hilfreich:

  • Ich schaue stolz auf mein Kind. Ja, dieses Kind ist sicher gebunden. Es zeigt normales Neugierverhalten, will die ganze Welt erkunden und am liebsten auch besitzen (symbolisiert durch "Ich will Kaugummi"). Ich hebe den Kopf und kann die Blicke der anderen in der Schlange jetzt besser parieren. "Habe ich das nicht wunderbar gemacht mit diesem Kind?"
  • Ich gehe zu meinem Kind in die Knie, nehme es in den Arm, puste ihm in den Nacken oder tue, was wir sonst tun, um unsere Verbindung zu stärken, und sage:  "So viele Sachen überall um uns rum. Das ist wirklich verlockend. Da kann es manchmal schwer sein, wenn man bei jedem Einkauf nur eine Sache aussuchen darf." (Kind durfte z.B. vorher bestimmen, welche Tomatensauce genommen wird.)
  • Wichtig ist: erstens dem Kind zu zeigen, dass man sein Bedürfnis versteht, und ihm zweitens durch Körperkontakt Nähe und Sicherheit zu geben in dieser von Reizen überfluteten Supermarkt-Welt, und drittens in der Sache nicht nachzugeben

In solchen Quengelsituationen beim Einkauf oder bei Ausflügen hilft nicht Machtkampf, schlechte Stimmung oder gar Missachtung, sondern kurze Momente der Nähe, über den Rücken streichen, in den Arm nehmen oder "Engele flieg" spielen. Dann kann das Kind mit einem "Nein" besser umgehen.


Bei "Engele flieg" müsste ich jetzt in die Mitte, die beiden Thron-Folger kriegen wir einfach nicht mehr hoch. Deshalb gibt es hier kein Bild von Körperkontakt in der Katzenklo-Familie, sondern eine Zeichnung aus dem Elterntraining, mit der ich jeden, wirklich jeden, meiner Posts bebildern könnte. 

"In den frühen Bindungssituationen, im verspielten Miteinander haben sich zwischen Eltern und Kind viele kleine Rituale, Gesten versöhnlicher Art, Berührungen tröstender Art usw. eingeübt. ... Eine davon wenden Sie an. ... und die Welt verliert ihre bedrohlichen Züge und aus dem 'Ich-will-ich-will-nicht' erwächst Beruhigung." (Wolfgang Bergmann: Warum unsere Kinder ein Glück sind. Weinheim und Basel 2009, S. 78)

Nicht mit schlechter Stimmung manipulieren, sondern fröhlich das Band zwischen sich und dem Kind stärken.

Eure Uta


Ps.: Weiß jeder, was "Engele flieg" ist? Falls nicht: Zwei Leute nehmen ein Kind in die Mitte, fassen es an Händen und Unterarmen und lassen es hochfliegen.