Dienstag, 29. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 178: Von der "Überverantwortlichkeit"


Was für ein Morgen! Prinzessin (12) und Soßenkönig kollidieren im Badezimmer, weil die eine zur Schule, der andere früh zum Flughafen muss. Das Taxi, das ich für den Flughafen-Transfer bestellt habe, kommt und kommt nicht. Der Kater übergibt sich ins Wohnzimmer. Der Kronprinz hat sieben Minuten vor Schulbeginn noch nicht sein Zimmer verlassen. Soßenkönig sucht eine Wintermütze, die noch in den Koffer soll. Ohne Frühstück springt der Kronprinz auf sein kaputtes Fahrrad und saust die Einfahrt hinunter, wo endlich das Taxi hält. Der Fahrer entschuldigt sich. Seine Mutter fliege heute nach Indien zurück und sie fände ihren Reisepass nicht wieder. Ein Kuss. Die Autotüren knallen. Ich winke. Vor dem Haus treiben Blätter und abgebrochene Äste. Nach diesem hektischen Morgen fühle ich mich zerzaust wie der Garten nach dem Sturm gestern.

Wie froh bin ich, dass ich zu Hause arbeiten und mir erst einmal einen Tee kochen kann. Ich genieße jeden Schluck, als könnte ich Ruhe trinken, schiebe die Zeitung beiseite und lese Juul:

"Wenn man in den ersten fünf, zehn oder dreizehn Lebensjahren seine eigene Persönlichkeit zugunsten der Wünsche und Bedürfnisse seiner Eltern unterdrückt hat, dann wird die Überverantwortlichkeit ein Teil der eigenen Identität, weil man keine andere Möglichkeit kennengelernt hat, für andere Menschen wertvoll zu sein." (Jesper Juul: Dein kompetentes Kind, Reinbek bei Hamburg 2009, Seite 194, 195) 

Juul meint mit "Überverantwortlichkeit" den Drang, es allen Recht zu machen, sich schuldig sich fühlen, wenn etwas mal nicht funktioniert, ständig ein "sorry" auf der Zunge rumliegen zu haben, im Dauerstress zu sein, weil überall Möglichkeiten lauern, etwas falsch zu machen.

Dafür können wir unseren Eltern keine Schuld geben. Kriegskinder oder -kindeskinder waren es. Erst Überlebenskampf, dann Wiederaufbau. "Persönlichkeit des Kindes", "gesundes Selbstgefühl", "Integrität wahren"? Keine Begriffe, die damals en vogue waren.

Zum Tee ein paar Lampions aus dem Garten.


Erst in den siebziger Jahren setzte eine breite Psychologisierung* unserer Gesellschaft ein und die Menschen begannen, nicht mehr nur Erlittenes im Kessel von Stalingrad als Trauma zu behandeln, sondern auch Erlebnisse in einer durchschnittlichen Kindheit.

Das mit dem Psychologisieren ist mir meistens zu viel. Nicht hinter jeder Ecke lauert ein Trauma.

Aber ich möchte, dass Kinder nicht mehr diese "Überverantwortlichkeit" entwickeln und mit jedem Jahr, das sie älter werden, glauben, mit ihnen sei irgendetwas falsch.

Ich möchte, dass Eltern an sich arbeiten, wenn es zu Hause nicht läuft, statt die Kinder in die Therapie zu schicken.

Ich lasse ab von meiner eigenen "Überverantwortlichkeit" und packe sie fröhlich mit all dem Laub und den abgebrochenen Ästen in die Tonne

Uta


* nach Ursula Nuber: Der Mythos vom frühen Trauma. Über Macht und Einfluss der Kindheit. Frankfurt am Main 1999, Seite 24

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 177: Die Hausaufgaben-Falle


Gestern Abend war ich bei einem Vortrag über Hausaufgaben in unserer Schule. Die Aula war fast voll.

Hausaufgaben sind ein Hass-Thema für Eltern.

80 Prozent aller Eltern in Deutschland helfen bei den Hausaufgaben, sagt die Lern-Trainerin, die den Vortrag hielt.

80 Prozent von all dem Stress, den es in Familien gibt, hat mit Hausaufgaben zu tun, sagt Uta.

Hausaufgaben kommen in der Streit- und Stress-Statistik wahrscheinlich noch vor Aufräumen, Zähneputzen und Katzenklo saubermachen.

Die Lern-Trainerin machte deutlich, dass Eltern schnell in eine Hausaufgaben-Falle gerieten. Irgendwann fangen sie an zu helfen, helfen dann immer mehr (Papa hat sich ja auch so gut in das Thema eingearbeitet, Mama hatte schließlich auch mal Latein) und sitzen plötzlich in der Falle.

Trotz all der Hilfe wird es in der Schule auch nicht besser oder höchstens ein bisschen. Also hilft man noch mehr und streitet noch mehr ... eine Falle, wie gesagt.

Zuviel Hilfe ist also schädlich, aber sein Kind gar nicht zu unterstützen, kommt auch nicht in Frage.

Deshalb hier ein paar Ideen für einen gesunden Mittelweg:
  • dem Kind Hilfe anbieten, aber ihm nicht kontrollierend im Nacken sitzen
  • bei älteren Kindern Sprechzeiten vereinbaren: z.B. "wenn du Fragen hast, nehme ich mir von 18 bis 19 Uhr Zeit, sie mit dir durchzugehen"
  • die eigene Haltung überprüfen: Erlebt mich mein Kind als Mensch gewordenes Misstrauensvotum?
  • bei Grundschulkindern nach Mittagessen und Erholungspause (Toben, Trampolin, Fußball ...) Schulaufgabenzeit mit Ritual eröffnen (immer wenn der Wecker geklingelt hat, geht es los mit Hausaufgaben; immer wenn Mama mir einen Kakao kocht, hole ich meine Schulsachen heraus; immer wenn ...)
  • Anfangs- und Endpunkt der Schularbeiten festlegen und besprechen, was das Kind danach Schönes tun könnte
  • wenn das Kind sich schwer tut, mit der Arbeit zu beginnen, zusammen schätzen, wie viel Zeit es wohl benötigen wird und auf einem Timer einstellen; die meisten Kinder lieben diese Art von Wettbewerb, zumal sie meistens weniger Zeit brauchen werden als gedacht: "Mensch, nur 20 Minuten, dann mache ich das schnell."
  • nie auf dem Arbeitsplatz des Kindes sitzen, sondern neben ihm
  • nie in die Hefte des Kindes hineinschreiben oder etwas radieren; Hefte, Bücher und Ranzen sind Autonomie-Gebiet des Kindes
  • bei der Hausaufgabenhilfe nur reden, was die Aufgabe gerade verlangt. Die meisten Eltern reden viel zu viel und stören die Konzentration des Kindes: "Warum hast du nur stumpfe Bleistifte? Kannst du dich nicht mal gerade hinsetzen? Weißt du schon, wann ihr die nächste Arbeit schreibt? Bei dieser Unordnung hier könnte ich ja gar nicht lernen ..." Nicht machen! 


Schulaufgaben-Stilleben

Bei Prinzessin (12) läuft es gerade gut mit den Hausaufgaben. Das verdanken wir der neuen Freiheit. Es hat zwar ein paar Wochen gedauert, aber jetzt schafft sie es immer häufiger, sich ihre Arbeit selbst einzuteilen.
In den Noten schlägt sich das noch nicht nieder, aber als Person wirkt sie stärker als vorher.

Und ehrlich, das ist mir viel wichtiger als alles andere.

Immer fröhlich den Mittelweg bei der Hausaufgabenhilfe suchen

eure Uta.


PS: Da ich Gelassenheit und Humor in der Liste oben vergessen habe, kommt jetzt noch ein Witz hinterher, den ich in der Zeitung gelesen habe.
Zwei Zahnstocher laufen eine Straße entlang, als sie plötzlich ein Igel überholt. Sagt der eine Zahnstocher zum anderen: "Ich wusste gar nicht, dass hier ein Bus fährt."

Sonntag, 20. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 176: Die Trotz-Mama


Als die Kinder klein waren, besuchten wir für mehrere Tage die Schwiegereltern in Süddeutschland. Ich erinnere mich, dass wir einen Ausflug machen wollten und der kleine Kronprinz (ca. 4) sich selber angezogen hatte. Bunt wie ein Papagei stiefelte er die Treppe hinunter. Die Jacke schief geknöpft, die Strümpfe ungleich. Dazwischen die geringelte Schlabberhose, die zu seinem Schlafanzug gehörte.

Schwiegermutter sagte, er solle sich was Richtiges anziehen.
Mama bestand darauf, dass der Junge so mit zum Ausflug dürfe.

Mit einigen Jahren Abstand betrachtet, ging es weniger um Kronprinz als um mich.
Darum, im Recht zu sein und zu opponieren gegen weit verbreitete Ansichten der Elterngeneration.

Wenn wir bei den Schwiegereltern oder bei meinen Eltern waren, habe ich Sätze gedacht wie:

"Ihr Nachkriegs-Eltern respektiert nicht die Individualität des Kindes."

"Ihr, in eurer Generation, habt uns als Kinder nicht immer gesehen in unserer Einzigartigkeit."

"Das wird uns mit unseren Kindern nicht passieren."

"Bei uns werden Wurzeln erkuschelt und in aller Freiheit bunte Flügel entfaltet."

"Wir sind nicht fixiert auf Oberflächliches wie Aussehen und Ordnung. Bei uns zählen die inneren Werte."

"Und anders als ihr, die ihr ständig grübelt, was die Nachbarn oder die Verwandten von euch halten, pfeifen wir darauf, ob wir mit unseren Kindern einen guten Eindruck machen oder nicht."

(Ich hatte gut reden. Was die Leute in meiner Heimatstadt oder in einem schwäbischen Dorf von mir hielten, war mir egal. In Hamburg wäre ich auch nicht so gaaaaanz frei davon gewesen.)

Die Situation mit Kronprinz und seinem modischen Freestyle kam mir in den Sinn, als ich bei Rogge und Bartram Folgendes las:

"...mancher Vater, manche Mutter haben sich ... im Laufe ihrer Biografie geschworen, die Fehler, denen sie in der Kindheit und Jugend ausgesetzt waren, nicht zu wiederholen und jene Defizite, die sie einst erlebt haben, am Kind wiedergutzumachen. Wer die elterlichen Erziehungsstile pauschal ablehnt, der begibt sich jedoch in eine Sackgasse."

Ja, aus Prinzip immer das Gegenteil zu machen, funktioniert nicht. Meine Trotz-Mama-Phasen haben mich viel Energie gekostet.

Es genauso zu machen, wie die Generation davor, funktioniert auch nicht. Das ist die andere Sackgasse.

Was eher weiter hilft, ist, die eigene Biografie differenziert zu betrachten, sich zusammen mit dem Vater der Kinder hinzusetzen und zu gucken:

  • Was hat ihm, was hat mir früher nicht gefallen? Und welche Erziehungsstile möchten wir bei unseren Kindern vermeiden?
  • Was hat ihm, was hat mir früher Halt gegeben? Und was möchten wir unseren Kindern weitergeben?


"Wer ein Kind hat, der hat es immer mit zwei Kindern zu tun:
 dem Kind, das vor einem steht,
und jenem Kind, das man selbst war ..." (Rogge, Bartram).
Hier das Kind, das ich war.




Mögt ihr mir schreiben, was ihr euren Kindern von euren Eltern weitergeben möchtet?
Bei mir sind es so Dinge wie Zusammenhalt, Geborgenheit, schöne Feste, Begeisterung für Natur und Kunst ...

Immer differenziert und fröhlich die eigene Biografie betrachten

Uta

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 175: Pommes und Atheisten


Mittwoch und Freitag sind inzwischen die einzigen Tage, an denen die Kinder nur bis zum Mittag Schule haben und zum Essen nach Hause kommen. An diesen Tagen nehmen wir uns Zeit für ein gutes Essen ganz in Ruhe mit Nachtisch und Nachklönen.

Gestern gab es Zitronenschnitzel mit Pommes und Salat, zum Nachtisch gekaufte Mousse au chocolat mit Kiwi-Scheibchen auf einem Teller garniert und zum Nachklönen ein Gespräch über Religionen.

Wie wir darauf kamen, weiß ich nicht mehr, aber wir sprachen über den Unterschied zwischen Moslems und Islamisten, über "christliche" Kreuzzüge, Ablasshandel, Martin Luther und Buddhisten, die zeitgeschichtlich betrachtet wohl am wenigsten auf dem Kerbholz haben.

Wir waren uns einig, dass dieses Recht-haben-wollen über Gott schon viel Leid verursacht hat. Und Kronprinz (16) meinte, er könne nachvollziehen, dass manche Menschen nichts mit Religion zu tun haben wollten oder sogar Atheisten würden.

"Was sind noch mal Atheisten?", fragte Prinzessin (12).

"Das sind Leute, die nicht an Gott glauben."

"Ach", meinte Prinzessin und tunkte Pommes in die Soße, "dann werde ich nach der Konfirmation auch Atheist."

Also darf ich doch nicht nachlassen, abends mit ihr das Gebet zu sprechen, das wir seit Jahren beten und dessen Quelle ich leider nicht herausfinden konnte:



Der Tag ist nun zu Ende,
ich falte meine Hände,
ich freue mich auf morgen,
bei Gott bin ich geborgen.



Betet ihr auch? Und wenn ja, was?

Immer fröhlich Gottvertrauen weitergeben

Uta

Sonntag, 13. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 174: Fahrt mit Leichen


Auf der Rückreise von den schwäbischen Schwiegereltern haben wir im Auto einen Krimi von Henning Mankell gehört. Hörbuch, sieben Stunden, 55 Minuten. Wie in Trance fuhren wir über die Kasseler Berge, so hereingezogen in die Geschichte, dass es niemanden von uns überrascht hätte, wenn im Gebüsch auf dem Waldrastplatz jemand einen Schalldämpfer aufgesteckt und auf uns geschossen hätte oder wir im Graben eine Leiche im Plastiksack unter den Blättern gefunden hätten.

Zum Glück passierte nichts dergleichen. Aber während der kurzen Rast stand ich mürrisch wie Kriminaltechniker Nieberg neben dem Auto und konnte es kaum erwarten, mit Kurt Wallander und Ann-Britt Höglund zusammen die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Fast hätte ich "Ystad, Mariagatan", die Heimatadresse des schwedischen Kommissars, ins Navi eingegeben. Aber obwohl mir die schlaflosen Nächte mit der Pistole unter dem Kopfkissen noch in den Knochen hingen und meine Sinne trübten, riss ich mich zusammen. Der oder die Täter mussten gefunden werden, bevor wir unsere Doppelhaushälfte erreichten.

Ich gestehe, mir war klar, dass dieser Krimi zu düster und zu brutal für Prinzessin (12) ist. Ich gestehe, nachlässig geworden zu sein nach all dem, was sie - wie ich hörte - schon bei Freundinnen an Filmen gesehen hat. Ich gestehe, dass ich diesen Krimi dringend zu Ende hören wollte und ich es nicht geschafft hatte, etwas Harmloseres aus der Bücherhalle zu besorgen.

Hin und wieder drehte ich mich zur Rückbank um und fragte: "Geht es? Ist es nicht zu heftig?"

Was hatte ich erwartet? Dass eine Warnanzeige auf ihrer Stirn blinkte? Dass sie eine Kassette "Ferien auf Saltkrokan" aus dem Rucksack zieht und sagt "Lass uns lieber das hören, Mama"? Dass Kronprinz (16) ein Lied aus der "Mundorgel" anstimmt?

Also fuhren wir weiter mit Wallander, mit der nächsten Leiche, mit seiner Angst und Einsamkeit, mit seiner Tabletten gegen Bluthochdruck und Diabetes und seiner ständigen Frage: "In was für einer Zeit leben wir eigentlich?"

Hinter Hannover hatte der Regen aufgehört. Mit mehr Toten war nicht zu rechnen. Der nächste auf der Liste war Wallander selbst. Opfer Nummer 9. Und der überlebte, das war ja klar. Im Auto aßen wir die letzten Apfelschnitz vom Oma. Wallander machte sich eine Tütensuppe. Was anderes hatte er nicht im Haus.

Es war kurz vor dem Elbtunnel, als der psychopathische Aushilfsbriefträger den Kommissar in seiner Wohnung auflauerte. Angeschossen konnte Wallander fliehen. Später überwältigte er den Serienmörder im Wald, übergab ihm im Präsidium den Kollegen und legte sich - zerschunden, verletzt und allein - unter seinem Schreibtisch schlafen.
Wir schleppten die Taschen ins Haus, kraulten die Katzen und gingen auch schlafen.

Ein paar Ferientage verstrichen. Prinzessin zeigte keine Traumatisierungs-Symptome. Aber mir hing diese Düsterkeit aus dem Krimi nach. "In was für einer Zeit leben wir eigentlich?"

Alice Munro gewann den Literaturnobelpreis. Ich kaufte ihren Erzählband "Tricks", weil ich gelesen hatte, dass sie über Zwischenmenschliches schreibt, und hoffte, dass es mich wärmt. Kunstvoll sind diese Erzählungen, keine Frage. Aber wieder wärmer wurde mir erst, als ich morgens in dem Buch "Dienstags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens" las. Darin beschreibt Mitch Albom, wie er seinen alten Professor besucht, der schwer erkrankt ist und bald sterben wird. Seine Besuche bei Morrie werden zu Vorlesungen über das Leben.

"Die Kultur, in der wir leben, ist nicht dafür geeignet, dass die Menschen sich mit sich selbst wohl fühlen." Das hatte Morrie mal gesagt. Und er hatte "seine eigene Kultur geschaffen - lange bevor er krank wurde. Diskussionsgruppen, Spaziergänge mit Freunden, Tanzen nach seiner Musik in der Harvard Square Church. Er rief ein Projekt namens Greenhouse ins Leben, wo Arme sich psychologisch betreuen lassen konnten. Er las Bücher, um neue Ideen für seine Kurse zu bekommen, besuchte Kollegen und wurde von ihnen besucht, hielt Kontakt mit alten Studenten, schriebe Briefe an entfernte Freunde. Er nahm sich mehr Zeit, um zu essen und sich die Natur anzuschauen, ... Er hatte sich einen Kokon menschlicher Aktivitäten geschaffen - Gespräche, Interaktion, Zuneigung - , und sie füllten sein Leben wie eine überfließende Suppenschüssel." (S. 56) 

Spaziergang mit Sohn - Soßenkönig und Kronprinz auf einem Feld im Dorf der Schwiegereltern

Für die nächste Reise werde ich schauen, ob es "Dienstags bei Morrie" als Hörbuch gibt und ob ich meine Lieben davon überzeugen kann, es zu hören. Denn es spielt ja doch eine Rolle, was wir uns so in den Kopf tun.

Immer fröhlich sich seine eigene Kultur schaffen

Eure Uta

Dienstag, 8. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 173: Machos im weiblichen Biotop Schule


Wir sind wieder zu Hause, aber ich konnte nicht bloggen, weil unsere Fritzbox kollabiert ist. Kaum habe ich die Kiste gelobt, bricht sie zusammen. War vielleicht doch zuviel mit dem ganzen Jugendschutz.
Ich habe dafür Verständnis. Die meiste Zeit fühle ich mich auch überfordert vom Jugendschutz.

Dass ich nicht ins Internet konnte, war trotzdem blöd, weil ich euch dringend von einem Text schreiben wollte, den meine süddeutsche Schwägerin für mich kopiert hatte.

Wenn mich ein Artikel oder ein Buch begeistert, dann möchte ich am liebsten mit tausend Exemplaren über das Land fliegen und Kopien aus dem Hubschrauber abwerfen.

Dieser Text ist so einer.

Er stammt von dem Schweizer Allan Guggenbühl und heißt: "Die Schule - ein weibliches Biotop? Psychologische Hintergründe der Schulprobleme von Jungen". (erschienen in: Handbuch Jungen-Pädagogik von Michael Metzner und Wolfang Tischner, 2008, S. 150 - 167)

Guggenbühl schreibt, dass die Schulen es gut gemeint hätten, als sie in den 80er und 90er Jahren die Geschlechterrollen abschaffen wollten. Ein Mädchen sollte nicht darauf festgelegt werden, ein Mädchen zu sein, ein Junge nicht darauf, ein Junge zu sein. Mädchen sollten für Naturwissenschaften begeistert werden, Jungen für Handarbeiten und den Frieden.

Was gut gemeint war, so Guggenbühl, war letztlich eine Ideologisierung und ginge an der Realität von Kindern vorbei. Zwischen den Geschlechtern gebe es Unterschiede, die wir nicht leugnen könnten. Und wenn wir sie leugneten, würden wir den Schülern nicht gerecht. Vor allen den Jungen nicht, die inzwischen viel häufiger die Schule abbrechen oder zur Therapie geschickten werden als die Mädchen.

"Die überwiegende Mehrzahl der Kinder will sich als Junge oder Mädchen ins Leben einbringen, will die geschlechtliche Identität ausbauen und entwickeln. ... Auch wenn die Erwachsenen sich strikt geschlechtsneutral verhalten, entwickeln sich die Geschlechtsunterschiede. ... Wenn die Schule Geschlechtsunterschiede negiert, dann werden aus den Schülerinnen Tussis und aus den Schülern Machos!" (S. 153) 

In dem Artikel wird mit Methoden aufgeräumt, die ich bis letzte Woche für toll hielt.

Individualisierter Unterricht zum Beispiel.

Guggenbühl macht klar, dass es für einen Jungen Stress bedeutet, wenn sich eine wohlmeinende Lehrerin an seinen Tisch setzt, ihm tief in die Augen blickt und nach seinen Interessen fragt.
"Wieso setzt sie sich wieder an meinen Tisch, spricht mit leiser Stimme und betroffenem Gesicht?" 
Über Worte Nähe zu erzeugen, ist ein sehr weibliches Verhalten. Jungen irritiert das eher. Sie stellen Nähe mehr über Taten her. Wenn sie jemanden zeigen wollten, dass sie sie mögen, würden Jungen ihr neustes Handy vorführen, eine Schachtel voller Würmer zeigen oder erklären, wie man den Stuhl verstellt, so Guggenbühl.


Das Tun ist für Jungen noch wichtiger als für Mädchen - Kronprinz vor Jahren an der Nordsee

Auch bei uns an der Schule gibt es seit einiger Zeit sogenannte "Lernzielgespräche".
Meistens sieht das so aus: Lehrerin, Uta und Sohn sitzen zu einem vereinbarten Termin im leeren Klassenzimmer. Lehrerin und Uta sind begeistert über so viel Gelegenheit zum Quatschen, Sohn sitzt muffig daneben.

Danach auf dem Weg zum Auto.

Uta: "War doch toll, wie Frau Wagner auf uns eingegangen ist und wie differenziert sie dich sieht, oder?"

Kronprinz (15): "Mmmmpf".

Uta: "Eigentlich ist sie ja doch ganz nett, die Frau Wagner."

Kronprinz: "Mmmmpf".

Uta: "Du musst dich einfach nur ein bisschen häufiger melden und dich mehr bei der Gruppenarbeit einbringen."

Kronprinz: "Mmmmpf".

Uta: "Ja, fandest du das Gespräch denn nicht gut?"

Kronprinz: "Kriegen wir jetzt eigentlich einen Internetverstärker?"

Ende des Gesprächs.

Auch Prinzessin ist keine Freundin von Lernzielgesprächen. Aber sie reagiert - typisch Frau - ganz anders darauf. Sie sucht Augenkontakt zur Lehrperson, trägt eifrig neue Lernziele ein und sitzt mit einem charmantem Dauerlächeln auf ihrem Stuhl.
Als wir nach dem jüngsten Lernzielgespräch die Treppe zum Parkplatz hinaufgingen, knetete sie ihre Wangen.

"Was machst du da?" - "Ich massiere mein Gesicht. Dieses Dauergrinsen ist so mega-anstrengend."

Ich bin vom Thema abgekommen.

Es ging darum, dass Allan Guggenbühl eine zu starke Individualisierung des Unterrichts für Jungen nicht gutheißt. Phasen des Frontalunterrichts seien wichtig für Jungen.
Ich zitiere: "Wenn die Lehrperson vor einer Schülerschar steht, auf sie einspricht und etwas verlangt, dann präsentiert sie sich als Oberbandenführer". Das bräuchten Jungs von Zeit zu Zeit. Überhaupt bräuchten sie die Gruppe oder Klasse, weil sie sich viel mehr in Hierarchien einsortierten als Mädchen. Die Klasse und ihre Struktur sei für sie eine wichtige Motivation (Besser in Mathe sein als Tim und fast so gut wie Leon). Bei zuviel Individualisierung und ständigem Werkstattunterricht, wo jeder an seinen Themen vor sich hinarbeitet, verlören Jungen ihren inneren Halt.

Ein typisches Gewächs des "weiblichen Biotops Schule" ist die Note für soziales Verhalten, die es inzwischen in vielen Bundesländern gibt. Dem Artikel zufolge sind zumindest die Kriterien, nach denen sie vergeben werden, zutiefst weiblich.
"...das Sozialverhalten ist inzwischen zur schulischen Schlüsselkompetenz aufgestiegen. Schüler und Schülerinnen sollen lernen, eigene Gefühle in Worte zu kleiden, Konflikte verbal zu meistern, zu kooperieren und sich in eine Gruppe einzufügen. ... Die Standards, durch die soziale Kompetenzen genauer festgelegt werden, entsprechen dem Sozialverhalten der Mädchen und nicht jenem der Jungen." (S. 165)
Jungen reagieren körperlicher, sie provozieren gerne, machen Witze und prahlen gerne, um Kontakt zur Gruppe aufzunehmen. Sie brauchen als Lehrer oder Lehrerin einen "Oberbandenführer", der das durchschaut, mal darüber lachen, es aber auch eindämmen kann, statt den Jungen gedanklich und im Zeugnis abzuwerten.

Ach, ich könnte noch so vieles aufgreifen aus dem Text. Aber das führt zu weit.

Für Zuhause noch den Tipp:

Wenn ihr mit eurem Sohn ein wichtiges Gespräch führen wollt, macht nicht die "Schau-mir-in-die-Augen-Kleiner-Nummer". Ihr kommt ihm viel näher, wenn ihr zusammen wandert, joggt oder etwas werkelt.

Immer fröhlich einen Jungen einen Jungen sein lassen

eure Uta

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 172: Franz-Kasten


Unser Internet war so langsam geworden in letzter Zeit, dass ich den Müll rausbringen, die Nägel feilen  und die halbe Spülmaschine ausräumen konnte, bis endlich eure Kommentare auf dem Bildschirm erschienen waren.

Deshalb telefonierte ich mit dem Provider und schloss einen Vertrag über eine neue Datenverbindung. Der Unterschied ist etwa so groß wie zwischen Trampelpfad und Autobahn und die neue Autobahn kostet fünf Euro monatlich weniger, ja weniger, als der alte Trampelpfad (also Nachfragen kann sich lohnen).

Für den Autobahnanschluss sollten wir neue Hardware geschickt bekommen, also eine andere Fritzbox. Da erinnerte ich mich an einen Hinweis aus dem "Netzgemüse"-Buch. Dort stand, dass die Box mit dem netten Namen eine Jugendschutz-Vorrichtung enthielte. Dort könne man für jedes internetfähige Gerät in der Familie einstellen, wann und wie lange es Internet-Zugang gewährt.

So sympathisch, der Fritz in der Box. (Gibt es eigentlich auch einen Franz-Kasten?) Der Fritz auf jeden Fall kann sich wie ein Aufpasser zwischen Doppelhaushälfte und World Wide Web stellen.

Die Dame im Call-Center meinte, es handele sich um ein Extra-Fritzbox-Modell, das Aufpreis koste.

Egal, das war es mir wert.

Aber dann rief mich ein Techniker aus der Zentrale des Providers an und erklärte, auch das kostenlose Standard-Modell enthielte den Jugendschutz und er könne mir die Gratis-Hardware schicken.

"Damit müssen Sie unbedingt mehr Werbung machen", bedrängte ich ihn, "für Familien ist das genial." Der Techniker versprach, die Marketing-Abteilung darauf hinzuweisen.

Oder nutzt ihr das alle schon und keiner hat mir was gesagt? Wehe!

In der Nacht nach der Tarifumstellung und dem Anschluss der neuen Box schlich ich an den Computer und richtete für gewisse Familienmitglieder Zeitfenster für die Internetnutzung ein. Es ging ganz einfach.

So kann das dann aussehen:

Den Zeitplan habe ich aus dem Handbuch fotografiert, aber genauso hat man es auf dem Schirm, wenn man auf der Fritzbox-Seite auf "Heimnetz" geht. Die blauen Balken lassen sich nach Belieben verschieben, vergrößern oder verkleinern.


Wir haben gerade Herbstferien und besuchen die Großeltern im Ruhrgebiet und in Schwaben. In der kurzen Zeit bis zur Abreise scheinen gewisse Familienmitglieder von der Umstellung noch nichts bemerkt zu haben. 

Soll ich die Wahrheit sagen, wenn wir wieder zu Hause sind, oder soll ich empört einstimmen, wenn alle den Provider verfluchen, weil man mal wieder nicht ins Netz kommt?

Ich glaube, ich werde den Spaß ein wenig auskosten und dann die Veränderung "kommunizieren". 

Hilfreich finde ich einen solchen Jugendschutz auf jeden Fall, weil er mich auf sehr bequeme Weise unterstützt, das Internetsurfen ein wenig einzuschränken. Zudem kann man die Einstellung mit einem Passwort schützen.

Immer fröhlich wie ein Heinzelmännchen die Jugendschutzfilter aktivieren und sich technisch Hilfe holen beim Kultivieren des "Netzgemüses"

Uta

PS: Wahrscheinlich komme ich erst nach unserer Heimkehr in der nächsten Woche wieder dazu, hier zu posten. Bis dahin grüße ich euch herzlich.