Dienstag, 14. August 2012

Glückliche Familie Nr. 71: Der Elternautomat


Früher war es die Strickjacke, heute ist es der Fleece-Pulli. Jede Zeit hat ihr Besorgte-Mutter-Kleidungsstück.

Gerade haben wir wieder ein Klassenfest am Elbstrand gefeiert. Klassenfeste sind ein gefundenes Fressen für die Bloggerin. Selten hat man so viele Mütter, Väter, Kinder, Geschwisterkinder und so viele Momente, wo jemand erzogen werden soll, auf einen Haufen.

Als wir am Abend mit Sand zwischen den Zehen und mit der Erinnerung von Sonne auf der Haut wieder aufbrachen, war ich Zeuge davon, wie mehrere Mütter die Fleece-Pulli-Debatte führten. "Wo ist dein Pulli?" - "Keine Ahnung, im Rucksack?" - "Zieh ihn bitte an, bevor wir losradeln." - "Du bist verschwitzt, du wirst dich erkälten." - "Man, mir ist voll warm." - "Lisa, Lara, Ann-Sophie, Till, Tom, Jasper ... ich fahre nicht los, bevor ...."

Prinzessin (11) trug eine dünne Leggings, T-Shirt und Ballerinas. Ich trug Jeans, warme Strümpfe, Schnürstiefel, Bluse, Pulli und Trenchcoat.

Prinzessin hat eine große innere Hitze. Ich trage selbst im Sommer Socken im Bett.

Prinzessin und ich, wir geraten manchmal aneinander, aber nicht in Fleece-Pulli-Fragen.

"Oh, Prinzessin hat wohl beschlossen, dass jetzt Sommer ist", scherzte eine Mutter, die Pullis an ihre Kinder verteilte.

Prinzessin und ich guckten uns an. Das sind die Momente für "Immer lächeln und winken".

Ein neuralgischer Punkt in der Eltern-Kind-Beziehung ist neben der Erkältungsgefahr, die Gefahr, sich den Magen zu verderben. Mütter stellen eine Köstlichkeit neben der anderen auf den Tapeziertisch: Datteln im Speckmantel, selbst gebackene Minibaguettes, Schüsseln voller Weinbtrauben, herrlich klebrige Brownies, Süßigkeiten-Igel, deren Stachel sich biegen unter der Last von Weingummi und Lakritz. Wenn aber das eigene Kind in einer Spielpause angesaust kommt, um sich zu stärken, ergießen sich ökotrophologische Vorträge über das Kind. "Davon würde ich jetzt nicht so viel essen." -"Guck mal, hier sind auch Weintrauben." - "Nicht den Mäusespeck, du und Tim, ihr wollt doch heute im Garten zelten. Ich habe keine Lust, dass ihr mir ins Zelt spuckt." ....

Es ist die Dreifaltigkeit der Themen Anziehen, Essen und auch noch Schlafen, die vor allem bei uns Müttern anspringen lässt, was Jesper Juul den "Elternautomaten" nennt.

Wortreich dozieren wir über drohende Gefahren, wir klingen wie ein Text aus der Apotheken-Umschau, springen mit Mützen, Halstüchern und Hausschuhen hinter dem Nachwuchs her ... und handeln uns jede Menge Konflikte ein.

"Elternautomat" deshalb, weil wir wie auf Knopfdruck aktiv werden und die immer gleichen Phrasen abspulen.

Ich behaupte, wir hätten weniger Streit und bessere Ergebnisse, wenn wir häufiger innehalten und nichts sagen würden.

Stephen R. Covey entdeckte als Student in einem Buch den Satz:

"Es gibt einen Raum zwischen Reiz und Reaktion."

In seinem Hörbuch "Der Weg zum Wesentlichen" beschreibt Covey, wie bedeutsam der Satz in seinem Leben geworden ist.


Skulptur von Hilde Würtheim: "Innehalten" wäre mein Titel für dieses Werk


Im Umgang mit den Kindern hilft es mir sehr, den Raum zwischen Reiz und Reaktion bewusst zu machen. Meiner Beobachtung nach entstehen viele Konflikte zwischen Eltern und Kindern daraus, dass sie diesen Raum nicht nutzen.

  • Viel häufiger innehalten und nichts sagen. Ich erlebe immer öfter, dass meine Kinder fünf Minuten später von selber tun, was ich mir kurz vorher zu sagen verkniffen habe. 
  • Bei den Themen Essen, Sich-Anziehen und Schlafen nichts erzwingen. Es ist wichtig, dass die Kinder ein Gespür für ihre eigenen Bedürfnisse entwickeln und dafür Verantwortung übernehmen. (Kleine Kinder brauchen, was Essen und Schlafen angeht, ein klar strukturiertes Angebot und Führung, aber keinen Zwang oder Schimpfen!) 
  • Schon Babys kein Essen aufdrängen, sondern warten, ob es Signale gibt, dass sie noch einmal zulangen möchten Nie wieder "und noch ein Löffelchen für Onkel Dieter"! Die Nachkriegszeiten sind endgültig vorbei. 
  • Das berühmte Thema "Grenzen ziehen" gilt im Miteinander (Was du nicht willst, was man dir tut, das ...), aber nicht bei den Entscheidungen, ob jemand friert, schwitzt, Hunger hat oder müde ist. 
  • Bei wichtigeren Fragen ("Darf ich ohne Helm fahren?", "Darf ich in den Film ab 12, obwohl ich erst 11 bin?" ...)  ruhig sagen, dass man erst nachdenken, eine Nacht darüber schlafen oder es mit Papa besprechen muss. Das schafft Raum. Wenn man zu schnell reagiert, kann man oft nicht mehr zurück rudern.

In der Pubertät erntet man die Früchte des frühen Innehaltens. Ich habe manches "falsch" gemacht, aber der Fleece-Pulli-Debatte bin ich nicht in die Falle gegangen. Schon in der Grundschule habe ich es meinen Kindern überlassen, wie warm oder kalt angezogen sie das Haus verlassen wollten. Ich habe sie nicht gezwungen, eine Mütze aufzusetzen oder Handschuhe zu tragen. Das war auch nicht nötig, weil sie aus eigenen Stücken nach wenigen Metern zurückkamen, wenn es ihnen zu kalt war.
Heute - und da bin ich richtig stolz - fragen sie mich im Zweifel um Rat, was das richtige Kleidungsstück für die aktuelle Wetterlage ist. Streit haben wir deshalb nicht.


Immer schön innehalten und fröhlich bleiben

Uta