Dienstag, 23. September 2014

Glückliche Familie Nr. 242: Zu viel Nähe?


Neulich gingen wir ein paar Schritte und Prinzessin (13) hakte sich bei mir unter. Außerdem wird bei uns viel umarmt, der Rücken gekratzt, auf dem Schoß gesessen.

Wahrscheinlich haben wir zu viel Nähe, dachte ich. Man sollte mit seinen Kindern nicht befreundet sein. Ich bin die Mutter, der Soßenkönig ist der Vater. Wichtige Entscheidungen müssen wir fällen. Wir müssen auch mal unbequem sein und streng und doof und peinlich.

Okay, das machen wir alles. Wir drücken uns nicht vor der Verantwortung oder zumindest nur manchmal, wenn wir es wieder so genießen mit unseren Kindern und keine Lust haben, bis in die letzte Faser konsequent zu sein.

Aber wenn es wieder so eine kuschelige Phase gibt mit den "Pubertieren", habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich bin ich eine von den Müttern, die der Kinderpsychiater Michael Winterhoff und Buchautor ("Warum unsere Kinder Tyrannen werden. ...") so gerne an den Pranger stellt. So eine Mutter, die den gleichen Nagellack benutzt wie ihre Tochter und in symbiotischer Beziehung mit ihren Kindern lebt, weil sie von ihnen die Bestätigung braucht, die sie woanders nicht bekommt. So eine Mutter, die aus eigenem Mangel heraus die Kinder an sich kettet. Eine, die in ihrem übergroßen Harmoniebedürfnis nicht durchgreifen kann, die ihre Kinder mit falsch verstandener Liebe erdrückt, die einfach zu schwach ist.

(Bis auf den Nagellack hat der Soßenkönig die gleiche Schwäche.)

Ich habe dieses Verhalten untersucht, bei uns und bei anderen, und komme zu anderen Schlüssen als Winterhoff und Konsorten.

Ich bin stark, habe (meistens) keinen Mangel und kann (wenn es drauf ankommt) sehr wohl durchgreifen. Der Soßenkönig und ich genießen es nur einfach sehr, Eltern zu sein.




Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist einfach enger geworden als noch vor einer Generation.  Am Elternsprechtag kam mir eine Mutter Hand in Hand mit ihrer 15jährigen Tochter entgegen. Bei einem Vortrag über berufliche Perspektiven in der zehnten Klasse sah ich mehrere Halbwüchsige, die ihren Kopf auf Vaters oder Mutters Schulter legten.
"Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen sagen heute, sie verstünden sich gut mit ihren Eltern. Drei Viertel der Befragten würden ihre eigenen Kinder so erziehen, wie sie selbst erzogen wurden." 
Das schreibt ZEIT-Redakteur Martin Spiewak in der Ausgabe vom 11. September und bezieht sich dabei auf die Shell-Jugendstudie. Spiewak sieht ferner eine "Entspannung im Verhältnis der Generationen".

Am vergangenen Wochenende bin ich in meine alte Heimat zum Treffen meines Abitur-Jahrgangs gefahren. Bis tief in die Nacht habe ich mit alten Schulfreunden gesprochen. Viele haben Familie, manche nicht, Alleinerziehende, Patchwork, alles ist dabei.

Mein Schulfreund Klaus ist seit drei Jahren von seiner Frau getrennt. Nach seinem Auszug hat er sich eine Wohnung gesucht, die nahe bei der Schule seiner beiden Kinder liegt. "Dann können sie häufiger bei mir übernachten und ich kann vor der Arbeit mit ihnen frühstücken", erzählt Klaus. Sein Sohn steht kurz vor dem Abitur. "Der will ja nicht mehr viel von mir wissen, aber ich hole ihn immer vom Fechttraining ab. Dann habe ich ein paar Minuten mit ihm zusammen." Damit Klaus nicht sieht, wie gerührt ich bin, sortiere ich im Nudelsalat auf meinem Teller die Erbsen heraus. Er bestellt sich noch ein Bier.
Seine Tochter ist jetzt 15 und macht gerade ein Auslandsjahr in Costa Rica. Um Kontakt mit ihr zu halten, hat Klaus neuerdings ein Smartphone ("das war vorher nicht so mein Ding") und skypen kann er auch, darf er aber nicht mehr. "Sie sagt, sie will nicht mehr so viel mit mir telefonieren, weil ihr Spanisch sonst nicht besser wird." Klaus ist stolz, dass seine Tochter das durchzieht. Aber unter der Trennung von Louisa leidet er wie ein Hund.

Eine oder zwei Generationen früher hätte Klaus' Ehe vielleicht gehalten. Aber eine oder zwei Generationen früher hatten Väter und Mütter nicht so viel Nähe zu ihren Kindern wie viele Eltern heute.

Es ist nicht unbedingt besser oder schlechter. Es ist einfach anders.

Noch einmal ZEIT-Redakteur Martin Spiewak:

"... hat ein Jugendlicher, der mit 15 Jahren schon zum Austauschjahr nach, sagen wir: Argentinien geht, das Rebellieren zum Selbstständigwerden nötig?"

Jugendliche heute müssen nicht mehr unbedingt ausbrechen aus erstarrten Strukturen, weil die Strukturen weicher, die Hierarchien zu Hause flacher geworden sind. Kaum jemand muss noch gegen einen übermächtigen Vater ankämpfen. Der Hausarrest gehört ins Familienmuseum. "Solange du deine Füße noch unter unseren Tisch stellst, ..." - dieser Satz hat heute einen anderen Context. Eltern und Kinder sind heute froh, wenn es ein familiäres Füßeln unterm Tisch gibt. Wahrscheinlich suchen Heranwachsende heute eher Halt und Nähe, als dass sie unbedingt aus einer häuslichen Enge ausbrechen wollen.

Wenn ihr auch so gerne mit den Halbwüchsigen kuschelt und sie mit euch, müsst ihr nicht denken, dass ihr schon wieder etwas falsch macht. (Die Eltern, mit denen ich zu tun habe, haben sowieso jede Minute das Gefühl, etwas falsch zu machen.) Schaltet die Talkshows aus mit all den warnenden "Experten", pfeffert die Bücher in die Ecke von den ewigen Bedenkenträgern und kostet - wie mein Schulfreund Klaus - die Zeit mit euren Kindern aus.

Immer fröhlich die Nähe genießen und sich von niemandem ein Haar in die Suppe werfen lassen.

Eure Uta