Dienstag, 2. September 2014

Glückliche Familie Nr. 239: Der kleine Neophobiker


Es ist passiert. Nach Jahren. Ganz unverhofft. Prinzessin (13) hat eine Scheibe Vollkornbrot gegessen. Einfach so. Ohne Druck, ohne Vortrag über Ballaststoffe. Nach mehr als einem Jahrzehnt mit Toast und knautschigem Kartoffelbrot. Wurden sonst aus Weißbrot noch die Sesamkörner heraus gepult, schluckte sie diesmal ganze Sonnenblumenkerne. Sie sagte nichts. Ich sagte nichts, konzentrierte mich nur darauf, dass mir die Augen nicht aus dem Gesicht fielen.




In solchen Momenten bin ich sehr froh. Froh, dass es geklappt hat mit dem Locker-Bleiben, froh, dass nicht Tod und Verderben eingetreten sind, weil ich die meiste Zeit keinen Druck beim Essen aufgebaut habe.

Mir sind das ja die allerliebsten Erziehungsmethoden, die sich zusammensetzen aus Gelassenheit und Respekt gepaart mit liebevoller Nähe und Interesse.

Die Sache mit dem Vollkornbrot ist deshalb so spektakulär, weil diese vor Körnern strotzende Scheibe das Ende von Prinzessins Neophobie markiert.

Neophobie ist die Angst vor etwas Neuem.

Ich gebe zu, dass wir damit spät dran sind. Mit dem Neophobie-Ende. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster erklärt, dass bei allen Kindern rund um den Globus die Angst vor unbekannten Nahrungsmitteln  etwa mit 18 Monaten einsetzt und zwischen acht und zwölf Jahren wieder nachlässt.

Lasst euch nicht aus dem Konzept bringen von der Mutter, die beim Latte erwähnt, dass ihre Tilda-Sophie schon Oliven lutscht. Kleine Babys schlucken fast alles, was ihnen die Mutter reicht, Brust, Flaschennahrung, was auch immer. Denn sie wissen evolutionsbedingt, dass sie als Nesthocker nur überleben, wenn sie verzehren, was die Eltern bringen.

Wenn Kleinkinder allerdings laufen lernen und immer selbständiger in Wald und Flur Küche und Kita herumrennen, schützt sie die angeborene Abneigung gegen Grünes, Bitteres und Saures davor, etwas zu essen, was ihnen nicht bekommt.

"Ein vorbehaltlos von Gemüse, Früchten und Beeren begeistertes Kleinkind wäre zu 99 Prozent unserer Geschichte bald ein totes Kind gewesen!", schreibt Renz-Polster. 

Es kann sein, dass eure Kinder beim Essen überhaupt keine Probleme machen. Dann könnt ihr euch zurücklehnen und auf den nächsten Post warten. Aber die, die sich damit herumschlagen, dass ihr Kind Brokkoli, Rosenkohl und Erbsen für Teufelszeug halten, denen sei gesagt, dass ihr Kind völlig gesund und sehr evolutionsbewusst ist. Im späten Kleinkind- und Kindergartenalter erreicht die Neophobie gerne ihren Höhepunkt. Besonders bei ängstlichen und schüchternen Kindern.

Was ich damit sagen will: entspannt euch, es geht vorbei.

Trotz Neophobie gibt es Möglichkeiten, Kinder an gesundes Essen heranzuführen. Diese habe ich aus dem Buch "Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt" von Herbert Renz-Polster. Dieser ist nicht nur Kinderarzt, sondern auch Dozent am Mannheimer Institut für Public Health, wo er seit Jahren forscht, wie die Entwicklung von Kindern mit Hilfe der Evolutionstheorie besser verstanden werden kann. Ich bin erst im ersten Kapitel über Ernährung, konnte es aber nicht abwarten, gleich davon zu schreiben.

Hier also, was ich an Tipps daraus mitnehme:

  • Wichtig sind Vorbilder und Gewöhnung. "Kinder essen ... bestimmte Nahrungsmittel nicht deshalb, weil sie ihnen schmecken, sondern sie schmecken ihnen, weil sie immer wieder davon essen." (a.a.O., Seite 23)
  • Experimente zeigen, dass Kleinkinder Nahrungsmittel schließlich annehmen, wenn sie ihnen an aufeinanderfolgenden Tagen noch etwa zehn weitere Male angeboten werden. (Also, wenn euch das sehr wichtig ist mit dem Spinat ...)
  • Nicht anfangen, für Tilda-Sophie ein Extra-Essen zu kochen. Mal eine Lieblingsspeise, klar, und bei uns gab es neben Vollkornbrot meistens auch eines ohne Körner. Aber gewöhnt euch nicht an, immer zusätzlich ein Spezial-Essen für den kleinen Neophobiker zu kochen. So zieht ihr euch  - und das sage ich jetzt - keine selbstbewussten Kinder, sondern Aufmerksamkeits-Junkies heran, die glauben, das Leben hinge für sie voller Extra-Würste. 
und jetzt kommen meine Lieblingspunkte
  • Kein Zwang, kein Druck, bleibt locker und vor allem freundlich. "Studien bestätigen das: Ein- bis Vierjährige probieren ein neues Nahrungsmittel doppelt so häufig, wenn ein freundlicher Erwachsener davon zuerst nimmt!" (a.a.O., Seite 23)
  • Sorgt für Geschwister, ladet die etwas älteren Cousins oder Cousinen eurer Kinder ein, verbringt Zeit mit anderen Familien, deren Kinder gute Esser sind. Denn - so unser Evolutionsforscher: "Jeder weiß, dass kleine Kinder den etwas älteren Kindern ins Meer folgen würden - sie werden auch das essen, was diese essen." (a.a.O., Seite 28) 

Hier habe ich schon mal über meine Anstrengungen geschrieben, meinen Kindern gesundes Essen nahe zu bringen.

Immer fröhlich ein freundlicher Erwachsener sein, der vor der Nase der Kinder ein gutes Essen genießt.

Eure Uta