Freitag, 14. November 2014

Glückliche Familie Nr. 252: "Einsames Gestrampel"


Hier seht ihr den Kinderwagen, in dem Kronprinz lag. Meine Schwiegereltern hatten ihn noch auf dem Dachboden stehen, und wir fanden das Gefährt so heiß, dass wir unser erstes Kind darin unbedingt durch Hamburg schieben mussten. Allein die Schutzbleche und dieses Hellblau!


In dem 50er Jahre-Geschoss lagen schon meine Schwägerin und mein Mann. Leider gingen nach einigen Runden um die Alster die Gummi-Reifen kaputt und waren nicht mehr zu besorgen, weshalb wir für Kronprinz doch noch einen neuen Kinderwagen kaufen mussten.
Sagt jetzt bitte nichts zu der Hose, die ich trug. 

Auf den Kinderwagen war man stolz, besonders in den 50er und 60er Jahren. Das spürte ich bei den Schwiegereltern und auch bei meinen Eltern. Für mich, die Nummer 4 zu Hause, gab es noch einmal einen neuen Wagen. Und meine Mutter strahlt heute noch, wenn sie erzählt, wie sie damit durch die Gegend lief.

So war das in den 60er Jahren: Nachkriegzeit, frisch geteerte Straßen und gummibereifte Kinderwagen, in denen man mit vor Stolz und Milch geschwellter Brust den Nachwuchs präsentieren konnte.

In dem Buch "Kindheiten. Wie kleine Menschen in anderen Ländern groß werden" von Michaela Schonhöft habe ich gelesen, dass die Angewohnheit, Babys in Kinderwagen zu transportieren, hauptsächlich in westlichen Industrie-Nationen verbreitet ist. Bei uns kauft doch jeder erst einmal eine "Karre", wenn der Bauch sich rundet. Anders in Afrika. Michaela Schonhöft schreibt:

"In ländlichen Regionen Afrikas sind viele Versuche fehlgeschlagen, Kinderwagen zu vermarkten. In den größeren Städten Ghanas oder Kenias gelten Buggys inzwischen als schick, ein bisschen als Chichi, als Repräsentationsobjekt. Im Alltag tragen die Frauen ihre Kinder aber meist so lange, bis die Kleinen laufen können. Ob einkaufen, Wäsche waschen oder Essen zubereiten: Immer sind sie mitten im Geschehen, immer sind Menschen um sie herum." (ebenda, Seite 74) 

An anderer Stelle erwähnt Schonhöft, dass hierzulande Kinderärzte raten, Babys nicht so oft auf dem Schoß zu halten, sondern lieber hinzulegen, damit sie viel frei strampeln können.
"Ein wissenschaftlicher Zusammenhang zwischen viel einsamem Gestrampel und motorischer Entwicklung besteht allerdings nicht. In Kamerun zum Beispiel können Babys trotz des ständigen Herumtragens viel früher laufen. Die Eltern üben es gemeinsam mit den Kindern, etwas, was hierzulande wiederum als sehr verwerflich gilt." (ebenda, Seite 64)

Aber noch einmal zurück zur "Karre", wo auch ein einsames Strampeln stattfindet. In "Kinder verstehen" schreibt Herbert Renz-Polster von heutigen Lebensräumen, die nicht unbedingt kindgerecht sind:
"...und das gilt auch für den 'Lebensraum Kinderwagen', in dem viele Kinder viel zu viel Zeit verbringen - schirmt er die Kinder doch von anderen Menschen ab und gibt ihnen wenig Raum, um dabei zu sein, mitzumachen, mitzuschauen oder aus eigenem Antrieb mitzuspielen." (ebenda, Seite 286) 

Damit wir uns richtig verstehen: Kronprinz und Prinzessin wurden viel getragen und im Kinderwagen gefahren. Ohne irgendeinen fahrbaren Untersatz wäre der Alltag mit Baby hierzulande sehr beschwerlich. Wir leben nun mal nicht in Kamerun und auch nicht in einer großen Sippe, wo Mutter, Tanten, Omas und Opas den Stöpsel mal schnell auf die Hüfte nehmen können, wenn wir einen Text zu Ende schreiben oder in den Supermarkt müssen.

Trotzdem ist die Frage, wie wir unseren Babys - auch ohne von Buschland und Blutsverwandten umgeben zu sein - mehr körperliche Nähe schenken können. In Japan zum Beispiel scheint es, trotz Hochindustrialisierung zu funktionieren. Obwohl dort Kinderwägen genutzt werden, gibt es den Recherchen Michaela Schonhöfts zufolge insgesamt viel mehr Körperkontakt zu den Babys als in unseren Breiten.

"Deutsche Mütter nehmen sich in den ersten Jahren viel Zeit für ihre Kinder, sehr innig werden sie in all diesen Stunden mit ihrem Nachwuchs aber nicht. Das deutsche, aber auch das amerikanische Baby wird permanent bequatscht, ist umgeben von sehr viel Spielzeug. Das Kind steht zwar im Mittelpunkt. Aber es liegt die meiste Zeit in seinem Bett, im Kinderwagen oder auf der Krabbeldecke. Säuglinge in Kamerun zum Beispiel, das hat die Osnabrücker Entwicklungspsychologin Heidi Keller beobachtet, erfahren dagegen permanenten Körperkontatk von sehr vielen verschiedenen Personen. Sie entwickeln dadurch ein tiefes Vertrauen, dass niemand sie im Stich lässt." (Michaela Schonhöft: Kindheiten. Seite 63) 

Seit der Zeit, aus der unser erster Kinderwagen stammte, hat sich aber auch hierzulande viel getan. Säuglinge werden nach der Geburt nicht mehr von ihren Müttern getrennt, 23 Prozent der Deutschen lassen ihre drei Monate alten Babys regelmäßig bei sich schlafen (ebenda,  Seite 71) und man sieht immer mehr Eltern, die ihre Einkäufe in den Kinderwagen legen und das Kind im Tuch vor der Brust tragen.

Was könnte man noch tun?

  • Der erste Schritt ist Sich-Bewusstmachen. Nach zwei Metern Erziehungsliteratur, die ich gelesen habe, ist eins unumstritten: Babys brauchen so viel liebevollen Körperkontakt zu vertrauten Menschen wie möglich. Auch Michaela Schonhöft konnte ihre erste Tochter viel besser beruhigen als sie die Bespaßungs-Rituale einstellte und - einem Rat der Hebamme folgend - ihr Kind herumtrug.
  • Apropos Hebamme. Die "sages femmes", also "weise Frauen", wie die Franzosen sie nennen, sind eine unverzichtbare Hilfe für den Start ins Familienleben. Besonders bei ihren Hausbesuchen geht ihr Rat weit über das Medizinische und Pflegerische hinaus. Ich bin nach 17 und 13 Jahren immer noch dankbar für die Hebammen, die ich hatte. 
  • Aus dem Buch "Kindheiten" hat mir auch die Idee so gut gefallen, dass Freunde eine Familie in den ersten Wochen nach der Geburt eines Kindes abwechselnd mit Essen versorgen. Eine Berlinerin, die eine Zeit lang in Washington gelebt hat, hat dort erfahren, dass sich Leute aus dem Bekanntenkreis in eine "Meals on wheels"-Liste eintrugen, um die Eltern in der ersten Zeit zu entlasten. Und wer nicht kocht, könnte ja andere Hilfen anbieten.  
  • Eine Bekannte hat mir erzählt, dass die erste Zeit mit ihren beiden Kindern sehr schwer war. Der Erstgeborene kam viele Wochen zu früh auf die Welt und musste auch zu Hause an einen Überwachungsmonitor angeschlossen werden. Das zweite Kind kam schneller als geplant. Während dieser Zerreißprobe wurde die Familie von einem älteren Ehepaar in der Nachbarschaft quasi adoptiert. Das kinderlose Ehepaar hatte gerade altersbedingt seine Reinigung aufgegeben und gab mit Freude die Ersatz-Großeltern. Bis heute (die Kinder sind etwa so alt wie meine) sind die beiden Senioren in die Familie integriert, sitzen mit den leiblichen Großeltern unterm Weihnachtsbaum und werden unterstützt, wenn sie heute altersbedingt Hilfe brauchen. Ob wir wohl fähig sein werden, in Zukunft immer mehr solche Modelle zu leben? 

Immer fröhlich das Baby herumtragen und sich schon vor der Geburt um Leute kümmern, die es auch mal auf die Hüfte nehmen können.

Eure Uta