Donnerstag, 21. November 2013

Glückliche Familie Nr. 183: Der Zucker-Dealer


Kronprinz (16) fragte mich, ob ich ihm blaue Lebensmittelfarbe besorgen könnte. Er hätte ein Video gesehen, in dem mit einem Kilogramm Zucker und Lebensmittelfarbe Kristalle hergestellt würden, die wie die Designer-Droge „Crystal Meth“ aussähen.

„Crystal Meth?“


Ich schluckte.


Ja, man sähe kaum einen Unterschied.


Will er meinen Einmachzucker tütchenweise in der Unterführung am S-Bahnhof verkaufen oder will er sich bei „Jugend forscht“ bewerben?


Mich beunruhigt, dass mein Kronprinz weiß, wie „Crystal Meth“ aussieht.


Mich tröstet, dass er mich in die Drogen-Herstellung einbeziehen will.

Wie immer in Situationen elterlicher Zerrissenheit, die wohl auch dann nicht aufhört, wenn die kleine Kartoffel vom ersten Ultraschallbild uns mit Piemont-Kirschen im Seniorenstift besucht, entscheide ich mich für Vertrauen: Ich suche im Supermarkt nach Lebensmittelfarbe.



Plätzchen-Ausstechen war gestern: Pseudo-Droge auf meinem Backblech.
Die blaue Lebensmittelfarbe verlor sich bei der enormen Zuckermenge.

Nicht nur Zucker, der nach Droge aussieht, sondern Zucker überhaupt gehört zu den Erzfeinden von Eltern. Der andere Erzfeind ist der Bildschirm. Zu viel Zucker, zu viel Bildschirm – an diesen beiden Fronten kämpfen alle Eltern.


Bei uns in der Küche liegen Süßigkeiten in den oberen Schränken. Je größer die Kinder wurden, desto höher wanderte alles, was zum Naschen ist: Schokoriegel und Pralinen oben neben den verstaubten Fleischwolf, bunte Zuckerstreusel hinter die Paniermehldose, Chips und Flips hinter den Karton mit dem Raclette-Gerät.


Unser Küchenprinzip „Immer höher, immer ungesünder“ hat aus den Kindern wahre Kletterkünstler gemacht. Prinzessin (12) bewegt sich auf der Arbeitsfläche wie eine Katze auf dem heißen Blechdach. Sie hangelt sich an den Oberschränken entlang, balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Spüle und Abgrund und angelt mit dem Kartoffelstampfer die Lakritzen-Schnecken aus dem höchsten Oberschrank. Wenn sie meine Schritte im Flur hört, springt sie hinunter und hopst zwischen Geschirrspüler und Backofen, als müsste sie für die nächste Hip-Hop-Aufführung üben. Nur Liedpfeifen geht nicht wegen der Lakritz-Schnecken in den Backen.


Mit Süßigkeiten bin ich nicht so streng, weil ich bei Felicitas aus meiner Klasse gesehen habe, was passiert, wenn Eltern Süßigkeiten total verbieten. Felicitas Vater war damals Chefarzt der örtlichen Kinderklinik und sie durfte zu Hause überhaupt nichts naschen. Ihren Ausgleich fand sie am Kiosk neben dem Schulhof. Nie werde ich vergessen, wie sie zitternd da stand und sich mit beiden Händen Schokoküsse in den Mund stopfte. Diese Schaumküsse hatten für Felicitas mindestens ein Suchtpotenzial wie „Crystal Meth“.


Bei uns darf man sogar vor dem Mittagessen etwas aus den Oberschränken holen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Kohlrabi noch hart sind oder das Fleisch nicht ganz durch, weil ich mit einem Text fertig werden musste. Wenn ich dann in der Küche wirbele, brauche ich Nervennahrung. Und die will ich den Kindern nach einem anstrengenden Schultag auch nicht verbieten.


Auf einem meiner Backbleche ist die Zuckerpampe inzwischen bretthart geworden. Mit einem Messer hat Kronprinz die ersten Brocken gelöst und in Tütchen abgefüllt. Es sieht verboten aus.

Drei Beutel stopft er sich in die Innentasche seiner Jacke, steigt auf sein Fahrrad und winkt mir zu. Versonnen lecke ich an dem Messer mit den Resten von Pseudo-Crystal-Meth.

In die U-Haft werde ich ihm Lakritzschnecken mitbringen.

Immer fröhlich in Beziehung bleiben

Eure Uta