Samstag, 3. November 2012

Glückliche Familie Nr. 96: Bücher und Zehenzwischenräume


Gestern las ich in der Zeitung einen Artikel über die Engländerin Wendy Cooling. Diese Frau hat das Projekt "Bookstart" erfunden. "Bookstart" sorgt dafür, dass jedes Jahr 700 000 Neugeborene in Großbritannien eine Tasche mit zwei Büchern geschenkt bekommen: eine zur Geburt, eine zwei Jahre später und eine zur Einschulung.
In vielen Städten weltweit hat es Nachahmer gefunden. Und in dieser Woche wurde in Hamburg gefeiert, dass der Bürgermeister die 100.000 Büchertasche in eine Wiege gelegt hat.





Im Hamburger Abendblatt stand: "Bei einer Studie der Universität Hamburg stellte sich heraus, dass Zweijährige aus Hamburg, die Buchstart-Bücher bekommen hatten, deutlich mehr Wörter kannten als Gleichaltrige aus Bremen, die keine Buchpakete erhalten hatten."

Die armen Bremer. Immer verlieren sie in der Statistik, sogar beim Vergleich der Gaststättenhygiene in allen Bundesländern (siehe ZEIT-Magazin diese Woche).

Aber zurück zur Leseförderung. Das ist auch eins von vielen Dingen, um die Eltern sich kümmern müssen.

Wendy Cooling möchte, dass wir das Lesen fördern.
Der Kinderarzt möchte, dass wir bei den Kindern das Sporttreiben und die gesunde Ernährung fördern.
Die Englischlehrerin möchte, dass wir das tägliche Vokabellernen fördern.
Die Klavierlehrerin möchte, dass wir das Üben fördern.
Unsere Zahnärztin möchte, dass wir die Benutzung von Zahnseide fördern.
Der Hautarzt möchte, dass wir die tägliche Reinigung des pubertierenden Gesichts fördern.
Eine Freundin meinte, man müsse es fördern, dass die Kinder nach dem Duschen die Zehenzwischenräume abtrocknen.
Und alle fordern, dass wir die Selbständigkeit der Kinder fördern.

Hat noch jemand ein Förderanliegen?

Und alle flöten: "Es reichen schon fünf Minuten jeden Tag."

Aber in der Summe sind es Stunden. Und wer betreibt die ganze Förderei?

Muttern 

Da liebe ich mir doch meine Wendy Cooling. Sie möchte zwar das Lesen fördern, setzt aber hinzu:


"Niemals zum Lesen zwingen." 


Sie nimmt einfach ihre Büchertaschen und stopft sie in die Kinderwägen. Und es hilft auch.

Ich speichere das hier jetzt ab und gehe nach oben in die Kinderzimmer. Ich lege zwei deutsche Jugendbuchpreis-Bücher, einen kleinen Korb mit Obst und Gemüse, die unregelmäßigen englischen Verben, die Klaviernoten, eine Dose Zahnseide, Gesichtsreinigungsfluid und ein Handtuch für die Füße und stopfe alles in die Betten meiner Kinder.

Ich nenne mein Projekt "AutonomyStart". Es wird weltweit Nachahmer finden.

Aber jetzt mal im Ernst. Wendy hat Recht. Eltern sollen die Kinder nicht drängen, zwingen, kontrollieren (höchstens die Zehenzwischenräume).
Die Aufgabe von Eltern besteht im Wesentlichen darin, den Kindern viele Möglichkeiten zu bieten. Dann kann jeder kleine Mensch gucken, ob etwas für ihn dabei ist, und die Person werden, die in ihm steckt.

Immer fröhlich viele Bücher und Möglichkeiten bieten

Uta

P.S. Wendy Cooling hatte die "Bookstart"-Idee während einer Einschulungsfeier. Als eine Lehrerin jedem Schüler zur Begrüßung ein Buch schenkte, sah Wendy, dass ein kleiner Junge damit nichts anzufangen wusste. Er biss hinein.