Samstag, 13. Oktober 2012

Glückliche Familie Nr. 90: Pokerface-Baby


Einst schrieb ich für eine Schweizer Zeitung über ein kleines Mädchen, das im Trennungskrieg der Eltern von seinem Vater entführt worden war. Über viele Monate war Monique in den USA verschollen. Ein halbes Jahr später wurde das Mädchen entdeckt und der Vater verhaftet. Die Mutter, eine gebürtige Schweizerin, kehrte mit dem Kind nach Zürich zurück. Ein Schweizer Gericht aber entschied, sie müsse das Kind in die USA zurückbringen. Aus Angst, ihr würde das Kind erneut genommen, tauchte die Mutter unter und floh mit dem Mädchen quer durch Europa.

Eine traurige Geschichte. Und ich hatte den Auftrag, sie zu erzählen.

Während der Recherchen war die kleine Monique stundenweise in meiner Obhut, weil ihre Mutter Anwaltstermine hatte oder zu einer Behörde musste. Mein Mann und ich glaubten, das traumatisierte Kind würde bei uns weinen oder randalieren, weil wir ihm völlig fremd waren. Aber nichts dergleichen.
Monique, damals drei Jahre alt, verhielt sich, als hätte sie schon immer bei uns gelebt. Sie spielte friedlich, kuschelte sich an uns, behandelte meine Schwiegereltern, die zu Besuch kamen, wie Oma und Opa, schmuste sogar mit ihnen.

Es war gespenstisch. Wir hatten plötzlich eine kleine Shirley Temple auf dem Schoß. Lockig, zuckersüß und ohne irgendeine Distanz zu Fremden.

Dieses Erlebnis fiel mir wieder ein, als ich in einem Buch des Bindungsforschers Karl Heinz Brisch las. Brisch erklärt die drei unterschiedlichen Bindungstypen:

  • Typ 1, die sichere Bindung:  Kind weint bei Trennung von Bezugsperson, lässt sich aber bei deren Rückkehr schnell wieder beruhigen
  • Typ 2, die unsicher-vermeidende Bindung:  Kind zeigt kaum Regung sowohl bei der Trennung als auch bei der Wiederkehr der Bezugsperson
  • Typ 3, die unsicher zwiespältig-ängstliche Bindung:  Kind weint bei Trennung und lässt sich bei Rückkehr der Bezugsperson kaum beruhigen, will Trost und tritt gleichzeitig um sich 

Monique zeigte ganz klar das Typ2-Verhalten. Ein kleines Mädchen, das seine wahren Gefühle hinter einer einstudierten Fröhlichkeit verbarg.

Brisch schreibt über diesen Typ:
In den Augen der Bindungspersonen selbst sind diese Kinder nach außen autonom, zufrieden und können mit Trennungen hervorragend umgehen... ein Kind, wie es sich viele Eltern für das Säuglings- und Kleinkindalter wünschen. Sie können sehr rasch und wechselnd bei verschiedenen Personen - heute bei der einen Babysitterin, morgen bei der anderen - "deponiert" werden....Aufgrund der Forschung wissen wir aber, dass diese Kinder nicht in sich ruhen und solche Trennungssituationen durchaus nicht stressfrei erleben.Genau das Gegenteil ist der Fall. Untersuchungen des Herzschlags und der Herzfrequenz sowie des Hautwiderstandes und auch die Messungen - zum Beispiel im Speichel - des Stresshormons Kortisol haben gezeigt, dass diese Kinder in Trennungssituationen genauso wie die bindungssicheren Kinder mit einer stressvollen Aktivierung ihres Körperbindungssystem reagieren: Der Puls schlägt schneller und sie schütten deutlich Stresshormone aus. Im Unterschied zu sicher gebundenen Kindern haben bindungsvermeidende Kinder bis zum Ende des  ersten Lebensjahres aber bereits gelernt, solche ... Bindungssignale nicht nach außen zu zeigen. (Karl Heinz Brisch: SAFE, Sichere Ausbildung für Eltern, Stuttgart 2010, S. 44/45)

Das ist furchtbar, oder? Noch kein Jahr alt und schon ein Pokerface.

Monique hatte rasant schnell gelernt, sich an die Welt der Erwachsenen anzupassen. Und diese Welt  war furchtbar für sie: monatelang war für sie die Mutter verschwunden, dann wieder der Vater. In sieben oder acht verschiedenen Krippen oder Kindergärten musste sie sich eingewöhnen und an plötzlich auftauchende Babysitter. Die beste Strategie war für sie, schon als Baby ihre wahren Gefühle zu verbergen und pflegeleicht zu sein.

Sieben oder acht Kitas in weniger als drei Jahren.                                 Foto: Kronprinz (15) beim Sozialpraktikum


Nach dem Erscheinen meines Artikels über diesen transatlantischen Krimi hatte ich keinen Kontakt mehr zu Monique und ihrer Mutter. Deshalb kann ich euch leider nicht schreiben, wie die Geschichte ausgegangen ist.

Wenn ihr aber Probleme habt, euer Kind in einer Krippe oder an eine neue Tagesmutter zu gewöhnen, kann die Geschichte von Monique eure Probleme relativieren.

Euer Kind weint, wenn ihr geht? Es beruhigt sich bald nach eurer Rückkehr?
Dann habt ihr ein bindungssicheres Kind.

Gebt ihm viel Zeit, sich zusammen mit euch in eine neue Situation einzugewöhnen. Das ist eine Investition, die sich lohnt.

Jetzt klinge ich wie eine Versicherungsvertreterin und höre liebe auf.

Immer behutsam eingewöhnen

Uta