Donnerstag, 19. September 2013

Glückliche Familie Nr. 169: Familienpolitische Ereiferung


Die Bundestagswahl rückt näher und ich wollte mich schlau machen über die familienpolitischen Vorsätze der einzelnen Parteien. Ja, wollte ich ... wirklich.

Dann bin ich aber hängen geblieben bei einem Interview mit der Soziologin Jutta Allmendinger, die sagt, dass wir Lebenszeitkonten brauchen für Erwerbsarbeit.
Wenn jeder so ein Konto hat, dann darf er in Phasen mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen gar nicht oder wenig Erwerbsarbeit leisten. Und wenn man später Halbwüchsige zu Hause hat und die alten Eltern um die Welt kreuzfahren, dann stürzt man sich mit Freude ins Geldverdienen und füllt sein Arbeitzeitkonto wieder auf.

Die Idee finde ich toll.

Leider steht Frau Allmendinger nicht zur Wahl.

Allerdings stimme ich auch nicht in allen Punkten mit ihr überein. (Die Welt ist häufig komplexer als mir lieb ist.)

Jutta A. findet das Betreuungsgeld doof, Uta A. findet das gut. (Habe ich erwähnt, dass ich es nicht leiden kann, wenn Leute nicht voll auf meiner Linie sind?)

Die Soziologie-Professorin sagt, dass Erziehung der eigenen Kinder damit der Erwerbsarbeit gleichgestellt werde, allerdings auf einem ganz, ganz niedrigen Niveau. Und dass das umgerechnet 3 Euro am Tag seien.

Ja, das ist erschütternd. Dennoch finde ich, dass diese 3 Euro ein wichtiges Zeichen sind, ein Zeichen für junge Mütter und Väter, dass sie - zumindest theoretisch - die Wahl haben, ihre Kleinsten selbst zu betreuen oder in eine Krippe zu geben.

Man sollte wählen können. Ist es neuerdings emanzipiert, wenn man Freiheiten beschneidet?

Dann ist da noch das Argument, die Kleinen würden in einer Krippe besser gebildet als zu Hause.

Abgesehen davon, dass es bei Babys zuerst um Bindung und viel später erst um Bildung geht, kann dieses Argument erst eingesetzt werden, wenn die Qualität der Einrichtungen gewährleistet ist, der Betreuungsschlüssel stimmt und Erzieherinnen besser ausgebildet und bezahlt werden als es heute der Fall ist.

Jesper Juul schreibt:
"Etwa 10% aller Kinder wären in der Tat besser gestellt, wenn sie so viel Zeit außerhalb ihres Elternhauses wie möglich verbrächten - das sagt uns die Statistik."* 
Und die anderen 90%?

Ja, darunter sind auch die Kinder, die aus Migrantenfamilien kommen. Für diese halte ich es für wichtig, dass sie mit drei Jahren in eine gute Kita kommen. Aber in der Zeit davor sollten Eltern, egal wie gut sie Deutsch sprechen oder nicht, wählen können, was sie für sich und ihr Kind für das Beste halten.

Ich beginne mich zu ereifern. Das ist gefährlich.

Will ich bloß Recht behalten über meinen eigenen Lebensentwurf?

Der sah so aus, dass ich als Redakteurin einer Frauenzeitschrift eine Reportage-Reise zum Thema "Mit dem Flugzeug in fünf Tagen um die Welt" antreten sollte. Anfang 30 war ich damals. Kurz vor dem Kofferpacken aber stellte ich fest, dass ich schwanger war und sagte alles ab.

War ich sauer oder enttäuscht?

Nein, riesig gefreut habe ich mich, dass die Zeit endlich anbrach mit Ultraschallbildern im Portemonnaie, mit Laternebasteln (später) und Pflasterkleben auf aufgeschürfte Jungsknie.

Dürfte ich das heute nicht mehr? Mich so freuen, wo meine Karriere doch gerade einen ordentlichen Knick erlitten hatte?

Mein Mann ist dann beruflich an mir vorbeigezogen. Was mich übrigens überhaupt nicht grämte, weil ich das tat, was ich tun wollte.

Dürfte ich das heute nicht mehr? Mich freuen, dass ich zu Hause mein Ding machen konnte?

Weil der Soßenkönig seinen Job wechselte, sind wir mit dem kleinen Kronprinzen nach Frankreich gezogen. Dort habe ich mich ziemlich allein gefühlt, weil ich auf den Spielplätzen nur Nannys traf, die überwiegend aus Marokko kamen und auf den Bänken am Rand zusammengluckten.

In Frankreich, heißt es immer, hätten es die Frauen viel einfacher, berufstätig zu sein, weil sie ihre Babys schon wenige Monate nach der Geburt in eine Krippe geben können.
Es ist richtig, dass man bei unseren Nachbarn seine Kinder komplett weg organisieren kann. Das kommt von der langen Ammentradition Frankreichs. Früher war es üblich, dass betuchte Franzosen in der Stadt ihren Nachwuchs für die ersten Jahre gegen kleines Geld an arme Bauersfrauen abgaben und in den ersten Jahren nur selten besuchten. Darauf ist es wohl zurückzuführen, dass es bis heute in Frankreich als niedere Arbeit gilt, sich um Babys und kleine Kinder zu kümmern.**

In Frankreich leben viele Kinder und Erwachsene voneinander getrennte Leben. Das kann man gut finden oder schlecht.

Mein Ding wäre es nicht.

Wenn man von einer Lebenserwartung von durchschnittlich etwas mehr als 80 Jahren ausgeht, macht die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern in der Phase Null bis drei verbringen können, etwa ein Zehntel ihres gesamten Erwachsenenlebens aus (bei zwei Kindern). Ein Zehntel!

Dieses Zehntel und weit darüber hinaus konnte ich auskosten mit meinen Kindern. Dafür bin ich sehr dankbar.

Erinnerung an ein anstrengendes, aber sehr schönes Zehntel meines Lebens

Auch wenn keine Partei hierzulande so viel Geld in frühe, gesunde Bindungen pumpen will, wie ich mir das wünschen würde, bin ich trotzdem dankbar für die familienpolitischen Leistungen, die es in Deutschland schon gibt (in Frankreich gibt es Kindergeld erst ab dem zweiten Kind und weniger Elterngeld als bei uns).

Und auch wenn ich noch nicht ganz sicher bin, wo ich meine Kreuze am Sonntag hinsetzen werde, werde ich auf jeden Fall wählen gehen, weil ich froh bin, in einem Land zu leben, in dem niemand wegen unbequemer Ansichten ins Arbeitslager geschickt wird (nicht in Frankreich, aber ihr wisst schon wo). Man darf wirklich die Maßstäbe nicht verlieren.

Immer fröhlich wählen gehen und die Idee mit den Lebensarbeitszeitkonten weiter entwickeln

Uta

(Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder?Dem Staat, den Eltern oder sich selbst? Ansichten zur Frühbetreuung, Weinheim und Basel 2012, S. 11) 

** aus eigener Erfahrung und mit Hintergründen aus dieser Radiosendung, auf die mich der Newsletter von "familylab" hingewiesen hat