Sonntag, 19. Mai 2013

Glückliche Familie Nr. 145: Heilsame Bockigkeit


In seinem Buch "Dein kompetentes Kind" schreibt Jesper Juul, dass jeder Mensch um eine Balance zwischen Kooperation und Integrität ringe.

Wann passe ich mich anderen Menschen an, wann muss ich Partei ergreifen für mich selbst, für den Menschen, der einmalig in mir angelegt ist?

Die Kooperations-Fotos vom Bügeln, Mit-Fußball-Gucken, Aufräumen der Kinderzimmer und Addieren von Steuererklärungs-Belegen erspare ich euch. Aber was für meine Integrität wichtig ist, zeigen folgende Fotos.

In diesen Situationen erblüht mein Selbst.

Es zu Hause schön machen.

Mit Tieren leben.

Im Garten arbeiten.
Zum Stepptanzen gehen. 

Sehr viel stärker als Menschen in der Lebensmitte (so wie ich) ringen Kinder um die Balance von Kooperation und Integration.

Das Kleinkind, das die Lippen zusammenpresst, weil es nicht mehr essen mag, der Junge, der im Torwart-Dress in den Kindergarten möchte, das Mädchen, das Lina nicht zu ihrem Kindergeburtstag einladen möchte, nur weil es die Tochter von Mutters Freundin ist, der Teenager, der nicht konfirmiert werden möchte ...
"Inzwischen wissen wir, dass Kinder im Konflikt zwischen Integrität und Kooperation - in den sie, wie die Erwachsenen, jeden Tag Dutzende von Malen geraten - sich in neun von zehn Fällen für die Kooperation entscheiden. Kinder brauchen keine Erwachsenen, die ihnen beibringen, wie man sich anpasst oder kooperiert. Sie haben hingegen einen dringenden Bedarf an Erwachsenen, die ihnen zeigen, wie man im Zusammenspiel mit anderen seine Integrität wahrt." (Jesper Juul: Dein kompetentes Kind, Hamburg 2003, S. 48)

Sehr erhellend finde ich, wie Juul darlegt, dass Kinder, die wir als bockig und höchst unkooperativ empfinden, im Grunde einer Familie einen großen Dienst erweisen können, wenn die Erwachsenen endlich genauer hinschauen würden.

Ich habe das mit Kronprinz (heute 15) erlebt in der Zeit, als er zwischen 6 und 9 Jahre alt war. Einmal rannte er im Streit aus dem Haus, geradewegs in Richtung der vierspurigen Hauptstraße. "Du kannst mich mal!"
Ein anderes Mal sprang er fast aus dem fahrenden Auto, warf draußen die Mülltonnen um oder trat nach mir.

Häufig war ich ratlos und verzweifelt.

Schließlich meldete ich mich in einem Seminar zur Persönlichkeitsbildung an und stellte fest, dass ich ein Männer-Bild mit mir herumtrug, mit dem mein Mann sich irgendwie arrangiert hatte, gegen das unser Sohn aber offensichtlich rebellierte. Meine Ablehnung von Gewalt, mein überhöhter Harmonie-Anspruch, mein Nett-Sein-Syndrom, meine tief sitzende Einstellung, dass wir Frauen mit unseren sozialen Werten und unserem Desinteresse für schnelle Autos, Geld und Macht irgendwie die besseren Menschen seien ...

Als ich zurückkehrte, hatte ich mich wohl so sehr verändert, dass die Konflikte mit Kronprinz wie weggeblasen waren. Ein Quantensprung in unserer Beziehung.

Ich bin heilfroh, dass ich irgendwann damit aufgehört habe, dem Jungen das Gefühl zu geben, wir Erwachsenen seien perfekt, nur mit ihm sei etwas nicht in Ordnung.
Ich bin heilfroh, dass ich ihn nicht zu einem Kinderpsychologen gezerrt oder sonst einer Therapie ausgesetzt habe.

Im Grunde hat er mit seiner Bockigkeit mir und der ganzen Familie einen großen Dienst erwiesen.

Juul würde sagen: Er war in höchstem Maße kooperativ.

Danke Kronprinz, danke Jesper Juul.

Immer fröhlich hingucken: Kämpft da mein Kind vielleicht um unser aller Integrität?

Uta